© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Halbherzige Offensiven
Migrationspolitik: Brüssel will illegale Migration stoppen, kommt aber nicht so recht voran
Hinrich Rohbohm

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Fast 200.000 illegale Übertritte verzeichnete die Europäische Union bisher in diesem Jahr. Ein Zuwachs von 60 Prozent gegenüber 2020 und 45 Prozent mehr als im noch pandemiefreien Jahr 2019. Wie groß der Migrationsdruck ist, wird schon daran deutlich, daß allein in Libyen knapp eine Million Menschen darauf warten, nach Europa zu gelangen. Eine weitere Million könnte aus der Türkei hinzukommen. Die steigende Inflation verschärft die wirtschaftliche Lage im Land zusehends, der Wert der türkischen Lira rast seit Monaten auf immer neue Tiefstwerte. Erhielt man vor zwei Jahren für einen Euro noch drei Lira, so sind es heute bereits 19. Entsprechend stark steigen die Preise. Und mit ihnen der Unmut der Türken auf ihren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Der könnte früher oder später erneut gewillt sein, Migranten Richtung Europa zu schicken, um damit Druck von seiner eigenen Person und seiner Politik zu nehmen, so wie er es bereits im März vorigen Jahres versucht hatte, als Zehntausende sich Richtung türkisch-griechischer Grenze aufmachten, um in die EU zu gelangen. Und ähnlich wie es kürzlich auch der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko an der Grenze zu Polen orchestrierte, als er Tausende Migranten in sein Land lockte, um sie auf ähnliche Weise wie Erdoğan als Waffe gegen die EU zu benutzen.

Wie reagiert die Europäische Union auf diesen Migrationsdruck? Weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit bleibt die Arbeit der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die eng mit europäischen Nachbarländern wie Libyen, Marokko oder der Türkei kooperiert, um die illegale Einwanderung nach Europa und das damit verbundene Geschäft krimineller Schleuserbanden einzudämmen.

Kleine Erfolge bei Rückführungen in Kooperation mit Libyen

Mit Drohnenflügen überwacht sie das Mittelmeer, meldet der Küstenwache des jeweiligen Nachbarlandes die Position der von den Schleppern losgeschickten Boote. Allein libysche Rettungsschiffe konnten auf diese Weise mehr als 27.000 Migranten auf See ausfindig machen und wieder zurück an die libysche Küste bringen. Darunter auch knapp 2.000 Frauen sowie rund 1.000 Minderjährige.

Darüber hinaus unterstützt Frontex eigenen Angaben zufolge die jeweiligen Behörden auch „in allen Phasen des Rückführungsverfahrens“, angefangen bei der Identifizierung der Rückkehrer über die Überwachung der Rückführungsflüge bis hin zum Chartern der dafür erforderlichen Flugzeuge. Derartige Rückführungen erfolgen in Libyen etwa über das VHR-Programm der Internationalen Organisation für Migration (IOM). VHR steht für Voluntary Humanitarian Return and Reintegration. Ein spezielles Programm, das die Migranten im Fall einer freiwilligen Rückkehr in ihre Heimatländer unterstützt, finanziert durch Gelder der Europäischen Union, die auch für eine zusätzliche Schulung und Ausbildung des Personals für die Küstenwachen der Nachbarländer aufkommt.

Millionen Euro an Finanzhilfen fließen Jahr für Jahr von der Europäischen Union in Länder wie Marokko oder die Türkei. Dennoch dürfen nach wie vor von EU-Schiffen im Meer abgefangene Schlepperboote im Mittelmeer oder im Atlantik nicht zurück in die Häfen dieser Länder transportiert werden. Der Grund dafür liegt zumeist in einer nicht hinreichend geklärten Menschenrechtslage und der damit verbundenen Frage, ob ein angelaufener Hafen als sicher gilt oder nicht. Die Definitionen, wann Menschenrechte verletzt sind und wann nicht, ändern sich ständig, nicht zuletzt aufgrund einer zunehmenden Moralisierung sämtlicher Lebens- und Rechtsbereiche innerhalb der EU.

Mit der Folge, daß es besonders in der Ägäis immer wieder zu den umstrittenen sogenannten Pushbacks kommt, durch die die griechische Küstenwache ankommende Migrantenboote an der Weiterfahrt in Richtung EU hindert. Daß es auch anders kommen kann, zeigte Spanien in seiner Exklave Ceuta. Im Mai dieses Jahres hatten 8.000 Migranten deren Grenzbefestigungen gestürmt. Noch nie zuvor waren so viele Menschen an einem einzigen Tag in die nordafrikanische Stadt eingedrungen. Die Behörden waren machtlos. Marokko hatte die Kontrolle der angrenzenden Strände ohne nähere Erläuterung von einem Tag auf den anderen ausgesetzt. Die Migranten nutzten die Chance, um an der Küste bis an den Grenzzaun zu gelangen und von dort um eine Mole herum schwimmend die spanische Stadt zu erreichen.

Linke Polit-Akivisten kämpfen gegen EU-Grenzschützer Frontex

Der Grund, warum die marokkanischen Regierung plötzlich die Grenzüberwachung boykottierte, war lediglich die Verärgerung darüber, daß Spanien die medizinische Behandlung eines Chefs der Untergrundbewegung aus der Westsahara gestattete. Zwar hat die spanische Regierung die meisten der Migranten wieder zurückbringen können. Doch der Vorgang zeigt, wie fragil die Abkommen der EU mit den Nachbarstaaten sind und daß der Migrationsdruck gegen die Europäische Union jederzeit eingesetzt werden kann, um politische Ziele durchzusetzen oder der Forderung nach mehr Finanzhilfen Nachdruck zu verleihen.

Nicht zuletzt deshalb will die EU die Arbeit von Frontex weiter ausbauen. Bis 2027 soll die Grenzschutzagentur auf bis zu 10.000 Einsatzkräfte anwachsen. Das wären fast fünfmal so viele Mitarbeiter wie bisher. 5,6 Milliarden Euro stellt die Europäische Union hierfür zur Verfügung. Auch die Schweiz ist übrigens an Frontex finanziell beteiligt, schickte auch selbst Grenzschützer mit in Einsätze. Doch Frontex hat nicht nur Freunde. Vor allem bei linken Polit-„Aktivisten“ aus dem Umfeld mehrerer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stößt Frontex auf Widerstand. Ihre Forderung: die komplette Abschaffung der Agentur und die „Entmilitarisierung europäischer Grenzen“.

In mindestens sieben Ländern hatte sich im Juni dieses Jahres das Bündnis „Abolish Frontex“ formiert, das seitdem mit Aktionen in europäischen Städten versucht, seine Forderungen in Brüssel sowie in sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten durchzusetzen, und zu dem auch die linke „Aktivistin“ Carola Rackete gehört. Ihre aufschlußreiche Argumentation: „Frontex hat als Teil des grenz-industriellen Komplexes keinen Platz in unserer Vision einer europäischen Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt und sich zur Wiedergutmachung von Schäden verpflichtet, die dem Globalen Süden in Jahrhunderten der weißen Ausbeutung zugefügt wurden.“

Der Hintergrund: Durch die personelle Aufstockung von Frontex würden die Chancen steigen, daß die EU den Migrationsdruck zusehends besser in den Griff bekommen könnte. Dadurch wäre sie nicht zuletzt auch gegenüber ihren Nachbarländern weniger erpreßbar, so daß das die EU destabilisierende Geschäft der Schleuser und deren teils fragwürdige und zwielichtigen Kooperationen mit NGOs deutlich an Attraktivität verlieren würde.

Wie notwendig der Ausbau von Frontex für die EU ist, belegt vor allem die Tatsache, daß trotz der bisher bereits erfolgreichen Kooperationen zwischen Frontex und der libyschen Küstenwache in diesem Jahr dennoch über 64.000 Migranten die illegale Einreise nach Italien über die zentrale Mittelmeerroute gelungen ist. Ein Zuwachs von 89 Prozent zum Vorjahr. Auf der westlichen Balkanroute sehen die Zahlen ähnlich aus. Mehr als 55.000 Migranten versuchen dort über Serbien und Bosnien-Herzegowina die Grenze nach Ungarn oder Kroatien zu überwinden, um ihren Weg danach weiter Richtung Mittel- und Westeuropa fortzusetzen. Ein Zuwachs von 138 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Hinzu kommen in diesem Jahr erneut 20.000 illegale Einreisen über die neue und von Frontex bisher noch weitestgehend vernachlässigte Westafrika-Route auf die Kanarischen Inseln sowie weitere 17.000 Zuwanderer über die westliche Mittelmeerroute nach Spanien. Mehr als 7.000 Migranten gelangten darüber hinaus über die von Lukaschenko künstlich geschaffene Weißrußland-Route in die EU. Lediglich auf der östlichen Mittelmeerroute ist es in diesem Jahr zu einem leichten Rückgang der Migration gekommen. Mit knapp 19.000 Einwanderern sind es drei Prozent weniger als 2020.

Ein weiteres von der EU bisher nicht gelöstes Problem ist die Sekundärmigration. Denn wer in den Erstaufnahmeländern Asyl erhält, kann bisher ohne Probleme in das von ihm bevorzugte EU-Land weiterreisen. Nicht wenige Zuwanderer nutzen diese Möglichkeit, um nach Deutschland zu gelangen, um, dort angekommen, einen weiteren Asylantrag zu stellen. Im Fall von Griechenland und Italien ist eine Rückführung in die laut Dublin-Verordnung eigentlich zuständigen Ankunftsländer nicht möglich. Der Grund dafür ist eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Münster. 

Demnach ist eine Abschiebung zurück in die beiden Mittelmeerländer nicht zulässig, weil der Grundbedarf der Migranten dort nicht gewährleistet sei. Und das verstoße gegen die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention. Denn sowohl Griechenland als auch Italien stellen ihre Zahlungen an die Asylbewerber ein, sobald das Verfahren abgeschlossen ist. Zudem verlieren die Asylbewerber nach Abschluß des Verfahrens auch ihren Anspruch auf einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft.

So registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr bisher rund 30.000 Anträge auf Asyl von Zuwanderern, die schon in Griechenland als asylberechtigt eingestuft worden waren. Im August dieses Jahres hatte der CDU-Innenexperte Alexander Throm bereits Griechenland und Italien vorgeworfen, Migranten bewußt schlecht zu behandeln, damit sie nach Deutschland weiterziehen. „Diese Rechtsprechung bedeutet nichts anderes, als daß alle weiterwandernden Flüchtlinge, für die eigentlich Italien zuständig ist, auf Dauer in Deutschland verbleiben“, kritisierte Throm und bezichtigte beide Staaten der systematischen Förderung einer Sekundärmigration.

Ende Oktober drohte auch der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Migranten mit griechischem Schutzstatus künftig nicht mehr nach Deutschland einreisen zu lassen. Es blieb jedoch bei der bloßen Drohung. Für eine solche Maßnahme existiert bis heute weder eine rechtliche Grundlage, noch wurde bisher eine entsprechende Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht.

Foto: Linker Protest gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex in Amsterdam: Für die „Entmilitarisierung europäischer Grenzen“