© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Das Ebenbild des Knechtes
Der Streit um ein Bilderverbot Gottes ist für die meisten Christen längst entschieden
Karlheinz Weißmann

Zu Beginn ihrer Grundschulzeit löste meine Tochter einen kleinen Eklat aus. Es ging um die übliche Frage nach den Ferienerlebnissen, und sie erzählte vom Familienurlaub auf Zypern, von der Sonne im Frühling, von der Katze, die vorbeikam und sich streicheln ließ, vom Baden, aber auch vom Ausflug zu einem orthodoxen Kloster in den Bergen. Besonders beeindruckt hatte sie, daß neben ein paar Touristen viele Gläubige in die Kirche kamen. Dort zogen sie an der langen Reihe von Ikonen vorbei, knieten in Abständen nieder, um die Bilder der Heiligen – beziehungsweise die davor angebrachte Plexiglaswand – zu küssen. Das alles kommentierte meine Tochter – zum Entsetzen ihrer Lehrerin – mit den Worten: „Orthodoxe sind keine richtigen Christen, die beten Bilder an.“

Der Versuch, diese Deutung zu korrigieren, war schon vor Ort gescheitert. Was wahrscheinlich mit einer Empfindung zu tun hat, die auch erklärt, warum manches Kind sich bis heute sträubt, Gott zu malen. Selbst in säkularer Zeit gibt es einen Instinktrest, der Blasphemie hemmt, und das sogar dann, wenn das biblische Gebot längst vergessen ist: „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen“ (2. Mose 20.4). Der Bezug auf das davorstehende „Ich bin der Herr dein Gott … Du sollst keine anderen Götter haben“ (2. Mose 20.1) ist ebenso eindeutig wie die Erläuterung durch den Satz „Bete sie nicht an und diene ihnen nicht“ (2. Mose 20.5).

Zu den Leitthemen des Alten Testaments gehört der Kampf um die Durchsetzung und Einhaltung des Bilderverbots. Alles beginnt mit der harten Strafe, die über die Verehrer des Goldenen Kalbs verhängt wird, und führt bis zum Kampf der Propheten gegen die Anhänger des Baal. Der dahinterstehende Gedanke, daß der einzige, allmächtige, unsichtbare Gott nicht dargestellt werden dürfe, hat seinen Niederschlag nicht nur im Judentum gefunden, sondern auch im Islam, der mit ähnlicher Schärfe jeden verdammt, der „Götzenbilder zu Göttern“ (Sure 6.74) macht.

Die Abhängigkeit der muslimischen von der jüdischen Lehre ist offenkundig, aber zu betonen bleibt, daß in beiden Religionen das Bilderverbot durchaus Schwankungen in bezug auf die Strenge der Einhaltung unterlag. Es gab mit Szenen aus der Bibel dekorierte Synagogen und illustrierte Ausgaben des Koran einerseits, das Totalverbot der Darstellung nicht nur Gottes, sondern auch von Menschen, Tieren oder unbelebten Gegenständen, andererseits.

In jedem Fall gehörte für Juden und Muslime der Verzicht auf und die Abscheu vor Kultbildern zu den wichtigsten Abgrenzungen gegenüber den „Heiden“, also Nichtjuden und Nichtmuslimen. Mohammed hatte persönlich für die Zerstörung der Götterfiguren gesorgt, die ursprünglich zur Kaaba gehörten, und in einem Hadith hieß es ausdrücklich: „Jeder Hersteller von Bildern ist im Höllenfeuer.“

Für das Judentum war die Verblendung des Heiden ausschlaggebend. Denn er hielt ein „Nichts“ (Jesaja 41.29) für Gott und sah keinen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Mehr noch, er machte aus demselben Baum, den er fällte, nicht nur Brennholz, sondern auch den Götzen, offensichtlich sein eigenes Werk, „vor dem er kniet und niederfällt und betet und spricht: Errette mich, denn du bist mein Gott“ (Jesaja 44.17).

Die Schärfe dieser Polemik verdeckt allerdings, daß der Heide in der Regel durchaus wußte, daß die Darstellung des Gottes nicht der Gott selbst war, daß zwar bestimmten Gegenständen oder Lebewesen eine übernatürliche Macht anhaften konnte, sie aber deshalb doch Gegenstände oder Lebewesen blieben. Und was für den Zusammenhang noch aufschlußreicher ist: Auch außerhalb der biblischen Tradition und ihrer Rezeption im Islam gab es Skepsis gegenüber dem Gottes-Bild.

Relativ bekannt ist das im Fall des Buddhismus, der ursprünglich keine Darstellungen Buddhas kannte oder gar als Gegenstand der Verehrung betrachtete. Aber eine Reserve dieser Art fand sich auch außerhalb der Hochreligionen. Schon im Hinblick auf die vorgeschichtlichen Glaubensformen gibt es die Annahme, daß das Fehlen oder doch Zurücktreten von menschlichen Figuren in ihrer Kunst für ein Tabu spricht, das die Wiedergabe eines Gottes in Menschengestalt untersagte. Ähnliches dürfte noch für die Felsritzungen der nordischen Bronzezeit gelten, bei denen vermutet wird, daß die ältesten Göttersymbole stilisierte Fußabdrücke sind; übrigens eine Parallele zum Buddhismus, der den Fußabdruck Buddhas bis heute als Sinnbild kennt. Zu erwähnen ist auch die Bemerkung des Tacitus, daß die Germanen eine Wiedergabe ihrer Götter in Menschengestalt ablehnten, die neben einer ganzen Reihe von Hinweisen auf die ursprüngliche Bildlosigkeit des Kultes der Hindus, Iraner, Griechen und Römer steht. Einige Religionswissenschaftler erklären solche „Anikonie“ (wie das Fehlen von Tempeln) damit, daß sie auf sehr alte indoeuropäische Traditionen zurückzuführen ist.

Man könnte hier, wenn nicht von Bildverbot, dann doch von „Bild-Scheu“ sprechen. Die verschwand auch dann nicht ganz, als die Antike begann, die Götter als vollkommene Menschen aufzufassen. Denn die Vollkommenheit sollte eben die Differenz zwischen Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott, deutlich machen, da nur „in der Gestalt des Gottes … das Sein der Welt ganz“ (Walter F. Otto) ist. Eine Sichtweise, die immer noch einflußreich war, als das Christentum in die Geschichte eintrat.

Das Christentum stand gegen Heidentum und Judentum gleichermaßen. Aber es triumphierte auf dem Boden des Heidentums. Nach seinem Sieg ging es gegen dessen Götterbilder mit ähnlicher Unduldsamkeit vor, wie Israel es in der Vergangenheit getan hatte und der Islam in Zukunft tun würde. Aber das Christentum nahm auch bestimmte Elemente des Heidentums in sich auf. Was das Mißtrauen des Judentums bestätigte, das schon in der Behauptung der Gottessohnschaft Jesu und später in der Lehre von der Dreifaltigkeit Beweise für „Vielgötterei“ gesehen hatte.

Auf diesen Vorwurf reagierte die Kirche weniger empfindlich als auf den, daß sie das alttestamentliche Verbot des Gottesbildes verletze. Zu erkennen war das am Zögern bei Beantwortung der Frage, ob es erlaubt sei, Christus als Menschen zu zeigen, aber mehr noch an der Abfolge von „Ikonoklasmen“ – „Bilderstürmen“, die unter Berufung auf das „Du sollst Dir kein Bildnis machen“ alles zerstörten, was der sinnlichen Ablenkung von der Gottesverehrung verdächtig war. Erst im Abendland schien dieser Streit zur Ruhe gekommen und entschieden, daß man Gott, der sich als Mensch offenbart hatte, auch als Menschen zeigen dürfe. Die bildende Kunst des Mittelalters war entsprechend geprägt von zahlreichen Christus-Darstellungen, aber auch solchen Gottes als Schöpfer oder als Teil der Trinität.

Erst in der  Zeit der Reformation brach der alte Streit mit unvermittelter Heftigkeit noch einmal aus. Vor allem verschärfte er Spannungen innerhalb der neuen Richtung und trug zur Spaltung der Evangelischen in Reformierte und Lutheraner bei. Deutlich ist das bis heute an der Art und Weise, wie man in beiden Konfessionen die Zehn Gebote lehrt: Während die Anhänger Calvins und Zwinglis – die Reformierten – das Bilderverbot als zweites Gebot aufführen, wollte es Luther nur als Erläuterung des ersten verstanden wissen und kassierte es; sein Katechismus kennt es nicht, während das letzte Gebot etwas umständlich in zwei Abschnitte aufgeteilt wird, um die Zehnzahl wieder vollzumachen.

Wenn Luther sich damit in relativer Nähe zur Lehre der alten Kirche bewegte, störte ihn das kaum. Er war hier – wie im Fall der „Deutschen Messe“ oder der Marien-Verehrung – ein konservativer Revolutionär. Weshalb er auch keinen Anstoß daran nahm, daß zur Vermittlung der neuen Lehre auf die tradierten Formen des Gottes-Bildes zurückgegriffen wurde, die ihn etwa als alten, weisen König im Himmel zeigten. Luther ging es darum, die Menschen – auch schlichte Gemüter – für das Evangelium zu erreichen, und gleichzeitig gegen jede Buchstabengläubigkeit das Zentrale der christlichen Botschaft deutlich zu machen. Das bestand seiner Meinung nach darin, daß sich Gott, an dessen Majestät und „Verborgenheit“ für ihn kein Zweifel bestand, freiwillig dem Menschen zugewendet hatte.

Dieser Akt unverdienter Freundlichkeit des Schöpfers gegenüber seinem Geschöpf bildet die eigentliche Mitte der Weihnachtsbotschaft: daß Gott wird wie unsereiner, daß er, der den Menschen nach seinem Bild gemacht hat, sich nun in einer Gegenbewegung dem Menschen als Menschen vorstellt. Der Dichter Nikolaus Herman, ein Gefolgsmann Luthers, hat dieses Paradox in seinem Lied „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“ aufgegriffen, das am Heiligabend und an den Weihnachtstagen in evangelischen wie katholischen Gottesdiensten gesungen wird, und in dem es heißt:

„Er äußert sich all’ seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an sich ein’s Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding’.

Foto: Segen Gottes des Vaters, Gemälde (Ausschnitt) von Luca Cambiaso: Freiwllig dem Menschen zugewendet