© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Künstler Seite an Seite mit Globalisierungsgewinnern
Rückfall in die Vormoderne
(dg)

Die neuen digitalen Kommunikationsmedien besitzen für den Berliner Kunsttheoretiker Harry Lehmann nicht nur das gemeingefährliche Potential für eine „Kontrollgesellschaft chinesischen Typs“ (Lettre International 135/2021). Sie könnten auch ein Mittel sein, „die Gesellschaft erneut über Moral zu integrieren“. Deswegen würden in westlichen Demokratien heute wieder „Kulturkämpfe um Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und Pressefreiheit“ geführt. So wie vor der Entkoppelung der modernen Gesellschaft von der Religion im 18. und 19. Jahrhundert. Ein solcher vor zwanzig Jahren noch unvorstellbarer Rückfall in die europäische Vormoderne, der das Ergebnis der vom globalisierten Finanzkapitalismus und dessen willigen Vollstreckern an den politischen Schalthebeln der Macht brutal forcierten „Spaltung“ nationalstaatlich verfaßter Gesellschaften sei, bedrohe „den Liberalismus von liberalen Demokratien im Kern“. Was aber, wie Lehmann verkennt, für die Herrschenden alternativlos ist. Hoffen sie doch, systemtreue „biodeutsche“ Loyalität infolge des durch Masseneinwanderung schrumpfenden ökonomischen Umverteilungsspielraums durch kostenneutrale „ideologische, über Moral“ vermittelte Integration erzeugen zu können. Dafür sieht Lehmann auch jene absolute Mehrheit von „Kunstschaffenden“ eingespannt, die sich heute „auf die Seite der Globalisierungsgewinner“ schlüge – zum Nachteil der Kunst. Denn eine solche „Politisierung“ verstärke nur die bereits vorhandene krasse Polarisierung und blockiere die genuine Leistung, welche Kunst im vorpolitischen Raum entfalten sollte: neue Vorstellungen von gemeinsam geteilter Wirklichkeit wahrnehmbar zu machen. 


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