© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

„Folge dem weißen Kaninchen“
Kino: Mit dem Film „Matrix Resurrections“ soll dem Publikum ein alter Hut neu aufgesetzt werden
Dietmar Mehrens

Man darf es wohl eine filmhistorische Revolution nennen, was sich ereignete, als am 31. März 1999 „Matrix“ in die Kinos kam. Mit einer raffinierten Werbestrategie wurde die Welt der Cineasten auf einen Meilenstein des filmischen Erzählens eingeschworen, so daß sich schon vor dem Start des heute als Klassiker geltenden Science-fiction-Märchens landauf, landab die Leute fragten: „Was ist die Matrix?“ 

Tatsächlich war der Film mit dem damals noch jungen Keanu Reeves in vielerlei Hinsicht eine Offenbarung: Visuell nutzte der Film so ziemlich alles, was computertricktechnisch zum damaligen Zeitpunkt möglich war. „Matrix“ sieht auch heute, obwohl mehr als zwei Jahrzehnte im Digitalzeitalter eine Ewigkeit sind, noch schick aus. Vieles, was man so zuvor noch nicht gesehen hatte, wurde nach „Matrix“ Standard.

Eine moderne Fortschreibung von Platons Höhlengleichnis

Der eigentliche Reiz des Films lag aber in seinem Spiel mit Wirklichkeiten. „Folge dem weißen Kaninchen“, wurde Programmierer Neo (Keanu Reeves) per Digitalnachricht aufgefordert (eine Anspielung auf „Alice im Wunderland“) und erfuhr so die bittere Wahrheit: Er ist gefangen in einer von künstlicher Intelligenz (KI) erschaffenen Simulation. Ein Fest für die Gattung der heute gern als Verschwörungstheoretiker verspotteten KI- und Transhumanismus-Skeptiker! Der Gedanke, daß die Welt, in der wir leben und alles, was uns begegnet, für real halten, in Wirklichkeit eine Inszenierung sein könnte, ist freilich so alt wie das Nachdenken der Menschen über sich selbst. Man könnte „Matrix“ also eine moderne Fortschreibung von Platons Höhlengleichnis nennen. Auch in der deutschen Romantik – man denke an E.T.A. Hoffmanns phantastische Geschichten – spielt der Gedanke einer imaginierten Welt eine wichtige Rolle.

Viel ist geschehen, seit 2003 mit „Matrix Revolutions“ die letzte von zwei verquasten Nachziehnummern anlief. Die Regisseure Andy und Larry Wachowski haben inzwischen erkannt, daß sie gar keine Brüder sind, sondern Schwestern. Sie heißen jetzt Lilly und Lana und sind Ikonen des westlichen Geschlechtsrevisionismus, der inzwischen als Epochen-Charakteristikum der beiden ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts erkennbar ist. In ihrem letzten gemeinsamen Projekt, der Netflix-Serie „Sense8“, durften die Brüder ganz ungeniert LGBT-Propaganda als Filmstoff verweben. Vor allem machten die Wachowskis seit ihrem Geniestreich von 1999 aber mit Rohrkrepierern wie „Speed Racer“ (2008) oder dem überambitionierten „Cloud Atlas“ (2012) von sich reden. Wie die beiden „Matrix“-Nachfolger waren die Filme vor allem eines: wirr. In ihnen spiegeln sich die Existenzen zweier Künstler, die hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sind.

In „Matrix Resurrections“ (gedreht in den Studios Babelsberg und in San Francisco) entführt Larry/Lana, diesmal ohne ihren Bruder, erneut in die Welt der zwei Realitäten. Die erste Filmhälfte ist wenig mehr als ein durch ironisch-selbstreferentielle Zitate kaschierter Neuaufguß der Ur-„Matrix“ mit den beeindruckenden technischen Möglichkeiten des Kinos von heute. Neo arbeitet für die Firma Deus Machina (für die er die Computerspiele „Binär“ und „Matrix“ entwickelt hat), ist aber, langhaarig, bärtig und durch Sprung-vom-Hochhaus-Gedanken gepeinigt, nur ein Schatten seiner selbst. Er muß also in dieser Transgender-Parabel vor die Wahl gestellt werden: „Freiheit oder Schicksal?“ Erst dann kann er der Matrix entrinnen.

Als das erledigt ist, will Neo seine alte Kampfgefährtin Trinity (Carrie-Anne Moss) nachholen. Sie fristet als Tiffany in der Pseudo-Welt ein erschreckend normales Familiendasein. Am Ende steht die Idee, Neos „Glauben an eine Welt ohne Krieg“ dadurch wahr werden zu lassen, daß sie in Regenbogenfarben neu gestrichen wird. Für diese naive Botschaft entschädigen die furiose Verfolgungsjagd, in der der Film kurz vor Schluß gipfelt, und die gekonnt choreographierten Action-Sequenzen zumindest teilweise.

Kinostart ist am 23. Dezember 2021

Foto: Programmierer Neo (Keanu Reeves) und seine Kampfgefährtin Trinity (Carrie-Anne Moss)