© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Gereinigt von aller Erdenschwere
Abschied: In seinem nachgelassenen Gedichtband erkundet Ulrich Schacht Spuren des Göttlichen
Heimo Schwilk

Man liest diese lakonischen Gedichte und spürt: Es sind letzte Worte. In den Herbst des Lebens hineingesprochen, der Abschied eines Dichters. Ein sanfter Rückzug ohne Groll, denn Ulrich Schacht war immer ein leidenschaftlich Zürnender, ein Polterer, bisweilen maßlos, aber immer treffsicher. Waren seine ersten Gedichtbände wie „Traumgefahr“ oder „Scherbenspur“ noch imprägniert durch die Erfahrungen des DDR-Dissidenten, der für seinen Freiheitsfuror vier Jahre im Gefängnis büßen mußte, bevor er 1976 von der Bundesrepublik freigekauft und dorthin entlassen wurde, so erscheint der schmale, posthum in der Edition Rugerup erschienene Lyrikband „Schnee fiel in meinen Schlaf“ wie gereinigt von aller Erdenschwere, geradezu entrückt. Ganz im Sinne von Ernst Jünger, der schrieb, im Alter würde der Wille schwächer, die Anschauung wachse.

Ulrich Schacht ist am 16. September 2018 im Alter von 67 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, obwohl er schon über den Damm zu sein schien, ein paar Tage nach seiner Entlassung aus der Herzklinik in Helsingborg, in seiner südschwedischen Wahlheimat. Er lebte dort mit seiner Ehefrau Stefanie in einem großen Anwesen auf einem Hügelzug über dem Meer, konnte um seinen Hof herum jene Ursprünglichkeit der Natur wahrnehmen, die er Zeit seines Lebens gesucht und in „kristallinen“ (Heiner Müller) Versen beschrieben hat. Ich war selbst bei einer seiner Reisen durch die Arktis dabei, unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dort, in den Archipelen unterm Nordpol und in einer Landschaft, die Friedrich Sieburg in einem berühmt gewordenen Reisebericht als „Die Rote Arktis“ (1932) beschrieb, suchte er den Zusammenprall zwischen menschlicher Hybris und einer menschenfernen Natur zu erfassen – ein Thema, das ihn lebenslang beschäftigt hat. 

Die Sowjetmenschen haben Schneisen der Landnahme in die Reinheit des Eises geschlagen, die den Betrachter verwirren, denn die militärische Inbesitznahme des Ursprünglichen verstört bis heute. Wie oft standen wir auf einer der Inseln und schauten auf das blendende Treibeis oder die blauen Gletscherzüge, im Rücken eine Sowjet-Station mit ihren zerborstenen Schiffs- und Flugzeugwracks und Tausenden von schwarz leckenden Ölfässern! Ulrich Schacht hat einige der damals entstandenen Gedichte in sein Buch „Bell Island im Eismeer“ (2011) aufgenommen. Ein Lyrik-Band, der auch religiöse Meditationen enthielt, die in gewisser Weise hinleiten zu dem, was im allerletzten Gedichtband das Hauptthema geworden ist. 

Alles wird dem Dichter zur Signatur des Göttlichen

Denn nun ist die Spannung zwischen Natur und Geschichte („Wächst ein Baum mitten im Tod“ lautet der Titel eines Essays von Ulrich Schacht über die innerdeutsche Grenze) dem imaginierten Wechsel vom Diesseitigen zum Transzendenten gewichen, Worte wie „Meer“, „Licht“, „Stille“, „Grund“ bezeichnen eine sich anbahnende Verwandlung, die gesucht und gesehen, erhofft und herbeigewünscht wird. Der Tod ist hier, wie es in einem Gedicht heißt, tatsächlich „eine reine Erfindung der Augen“, dem Ulrich Schacht metaphysische Augenöffner, Spuren des Göttlichen entgegensetzt.

Der Kulturpublizist Sebastian Kleinschmidt, ehedem Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form, hat in seinem einfühlsamen Nachwort von der „Lebenswehmut“ geschrieben, die schon im titelgebenden Gedicht „Schnee fiel in meinen Schlaf“ anklinge. Er weist auf die allgegenwärtige Lichtmetaphorik hin, die auf eine Quelle deute, die man als „Erlösung“ verstehen dürfe. Und zitiert Ulrich Schacht selbst: „Die Natur ist die Tapetentür Gottes zur Welt: Der Raum dahinter, in dem er verschwindet, ist der Traum davor, in dem er erscheint.“ Der hier vorzustellende Gedichtband ist durchdrungen von diesem Traum des Dichters, der die Zeichen zu entziffern sucht, die Gott uns aufgegeben hat. Damit wir nicht in Hybris verfallen, ihn, den eigentlichen Schöpfer, nicht aus den Augen verlieren. 

Ein kosmischer Ton, der den durch Menschenmachwerk bedrohten Planeten Erde als etwas Vor-Läufiges begreift, ist unüberhörbar, „Sternenbilder“ werden an irdischen Fahnenmasten gehißt, der Stern ist Metapher für das Licht, das eine Ur-Quelle vor Jahrmillionen aussandte. Der gläubige Mensch bezeichnet diesen Ursprung als Schöpfer. Wie und wann Gott einmal, wie es in der Johannes-Apokalypse heißt, „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ erschaffen wird, bleibt (s)ein großes Geheimnis, vermittelt aber eine Zuversicht, die größer ist als das menschliche Ingenium. Sogar „Luft Feuer Wasser Eis“, schreibt Schacht, sind nur menschliche „Ideen“, Anschauungsweisen des Wunders. Die „ewige Sekunde“ triumphiert über die Chronometer der Gegenwart, die Vermessung der Welt.

Alles wird dem Dichter zur Signatur des Göttlichen, die unter dem Himmel kreisenden Milane, das Meer, das Sinn-Scherben an Land wirft, die Ulrich Schacht wie Muscheln aufliest. Der Strand, „das bleiche Tuch“, ist von kosmischen Kräften ausgewaschen. Die Brandung fällt aus dem Himmel herab, Gott ist der Treiber aller Bewegung. Im Traum wissen wir davon, im Gesang der Vögel am frühen Morgen holt uns die Sorge ein. Doch in der Stille, im Rückzug aus dem Alltagslärm wird das Tragende, der Grund, sicht- und hörbar. Eine innere Stimme, die das Geschwätz auslöscht, jenen „ewigen Augenblick“ stiftet, von dem nur der Dichter – oder der Gott-Vertraute sich ergreifen läßt.

Der Lebensraum wird wirklich „neuvermessen“ in diesen Gedichten, „die Diagonale des Lichts“ zeigt die Richtung an, dem der Augenaufschlag gilt: „Dunkelheitsfernes Gelände“ nennt es Ulrich Schacht, der als Kopf einer evangelischen Bruderschaft kein Problem hatte, vom „Vater“ zu schreiben, diesem „Wolkenwort“, das die Zunge löst. Die Zwiesprache mit ihm wird zum „unendlichen Gespräch“, eine wunderbare Metapher für das anhaltende Gebet. Oder für die Wahrheit, die sich irgendwann auch dem Zweifler enthüllt. Die „unweigerlich kommende“ Nacht weicht am Ende dem Licht: Damit ist die Anfechtung, aber auch ihre Überwindung gemeint, das Sich-Fallenlassen in die Gewißheit. 

„Nur der erreicht sich, weil: Er geht.“ In dieser Conclusio hat Ulrich Schacht sein Ende, unser aller Ende vorweggenommen, denn im Tod vollendet sich die Suche, weil der Suchende – das ganze Buch ist ein Ausrufezeichen hinter diese Hoffnung! – zuletzt „die Last“ abwirft. Auch ein Sisyphus, heißt das, sollte schließlich von seinem Stein erlöst werden – daß man ihn lebenslang bewegen muß, dafür hat dieser Dichter mit seinen politischen Kämpfen und durch sein Werk virtuos Zeugnis abgelegt. 

Ein Buch also für Suchende – und auch für jene, die sich Fingerzeige wünschen, die der Dichter, stellvertretend, zu geben vermag. Das Gedicht, das den Band beschließt, „Der große Kommentar“, überläßt Gott und seiner Schöpfung das letzte Wort:

März Himmel. Nachts. Am Tag fiel Schnee: Korrespondenzen. Zu hören nichts zu sehen Alles






Dr. Heimo Schwilk, Journalist und Buchautor, arbeitete unter anderem als Leitender Redakteur der Welt am Sonntag. Weithin bekannt wurde er als Biograph Ernst Jüngers, mit dem ihn eine freundschaftliche Beziehung verband. Soeben ist von ihm im Landt Verlag (Manuscriptum) der erste Band seiner Tagebuch-Edition „Mein abenteuerliches Herz (I). Aus den Tagebüchern 1983–1999“ erschienen.

Ulrich Schacht: Schnee fiel in meinen Schlaf. Gedichte. Mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt. Edition Rugerup, Berlin 2021, broschiert, 96 Seiten, 17,90 Euro

Foto: Ulrich Schacht (1951–2018) in der Arktis: Im Rückzug aus dem Alltagslärm wird das Tragende, der Grund, sicht- und hörbar