© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Leben als furchtloser Unzeitgemäßer
Seelenruhe: Die sittliche Aufgabe des Menschen besteht darin, sich nicht von der Welt bestimmen zu lassen
Eberhard Straub

Fürchtet euch nicht!“ Diese Frohe Botschaft des Engels des Herren gilt heute fast als systemgefährdend. Denn der wahre, verantwortungsvolle Mensch zeichnet sich dadurch aus, dauernd Furcht zu haben und sich vor allen möglichen Gefahren zu ängstigen, ständig dazu aufgerufen, Anfänge eines Unheils abzuwehren und fortgeschrittene Übel energisch zu bekämpfen.

Die Frohe Botschaft war und ist eine Botschaft der Freiheit, durch Christi Geburt und weitere rettende Taten von den Zwängen eines blinden Geschicks, aus Verwirrung und Not im Reich der Sünde erlöst worden zu sein. Mittlerweile jedoch ist die Freiheit eines Christenmenschen suspekt geworden. Sie setzt eine innere Unabhängigkeit voraus, die nicht nur Freiheit in der Zeit, sondern auch Freiheit von der Zeit mit ihrem Druck ermöglicht. Christus riet der immer geschäftigen Martha, sich nicht um alles und jedes zu kümmern. Zur vita activa, der Betriebsamkeit, gehörte die vita passiva, die Ruhe, das Ausruhen, der Weg nach innen und der Abstand zum wirren Lärm der aufgeregten Zeit.

Schon die heidnischen Philosophen seit Sokrates empfahlen jedem, um frei in der Welt zu werden, sich nicht von deren trügerischen Verheißungen täuschen zu lassen, um nicht vollständig enttäuscht zu werden und von sich selbst entfremdet. Das höchste Ziel war die Seelenruhe und Unerschütterlichkeit. Davon handelten der stoische Philosoph Seneca und der Kaiser Marc Aurel in ihren Anleitungen zu einem gelungenen Leben der Weltklugheit und Lebenstüchtigkeit, sich nicht damit abzugeben, was Parteien umtreibt oder den zweifelhaften Launen der unbeständigen Zeitgenossen beflissen zu folgen, unvermeidlich unbeständig, weil sich die Zeiten ruhelos ändern. Es fiel den Christen später nicht schwer, solch stoische Weltweise sich anzueignen und mit der christlichen Freiheit zu verbinden. Diese entfaltet sich in einem inneren Reich, unzugänglich den äußeren und deshalb äußerlichen Mächten, weil abhängig vom Tage, der nur verworrenes im Verworrenen spiegelt.

Es fällt den meisten Mitläufern sehr schwer, sich zu besinnen

Es ist ein Gegenreich und als solches denen verdächtig, die ununterbrochen überrascht wie hilflose Tiere um sich schlagen, sobald Ungewohntes sie erschreckt und verwirrt. Seltsamerweise berufen sich die Gestörten und Unsicheren vorzugsweise auf „die Wissenschaft“ und „die Aufklärung“, Übermächte, die bereitwillig Moden oder Wünschen im raschen Lauf der Zeiten dienten. Es fällt den meisten Mitläufern, die nur tüchtig zu funktionieren haben, sehr schwer, sich auch nur vorübergehend, etwa für drei Tage, auf ihre Selbständigkeit zu besinnen und keine Zeitung zu lesen, die übrigen Medien zu meiden, sich der Aktualität zu verweigern und als schlechter Demokrat vor sich hin zu treiben. Gleichwohl sei denen Dank, die es wagen, auf ihre Weise zu denken im Sinne der Verheißung Christi, um Freude, den Zwilling der Freiheit, zu finden und Ruhe in seiner Wahrheit oder in Übereinstimmung mit den stoischen Weltweisen, die sich nicht zu viel erhoffen in diesen stets unvollkommenen Zeiten, die jeden narren und betrügen, der nicht auf der Hut ist.

Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankrott, gab der alte Goethe zu bedenken. Unbedingte Aufmerksamkeit auf die Tagesneuigkeiten, die ja zur Tätigkeit anregen sollen, und sei es nur eine ohnehin kräftige Meinung lautstark zu unterstützen, bringt jeden um die Vernunft, um das ruhige Abwägen und freie Urteil, was allein dazu verhilft, sich halbwegs in den Wirren der Alltäglichkeit zurechtzufinden. Goethe bemerkte in den „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ 1829: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tag vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! (…) Dadurch wird alles, was jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vor hat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“

Wie kann einer in dieser sogenannten Informationsgesellschaft ständiger Aktivisten zu mäßigem, ruhigen Sinne finden, „um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen, noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen?“ Das ist auch eine genuin christliche Frage, schließlich war Goethe, von dem sie stammt, wenn vielleicht auch ein recht eigenartiger Christ, ungemein vertraut mit dem Christentum und seinen Lehrern. Sich nicht von der Welt bestimmen zu lassen, darin liegt die sittliche Aufgabe des Menschen. Eine Aufgabe, nicht für ein paar Tage, sondern gestellt für das ganze Leben. Wer bereit ist, sich auf diese Frage und diese Aufgabe einzulassen, lebt als Unzeitgemäßer und muß damit rechnen, als solcher stigmatisiert zu werden. Denn nicht ein totaler Zeitgenosse sein zu wollen, erregt in Epochen des totalen Zugriffs auf den Menschen und der Intervention in sein inneres Reich erhebliches Mißtrauen.

Es muß sich dabei keineswegs um einen Christen handeln. Christen war ja von vornherein in Aussicht gestellt worden, daß sie ein Ärgernis für die anderen bilden. Es ist für sie nichts Überraschendes, abermals ihren Mitmenschen verdächtig zu sein. Neu ist, daß solche, die mit Weihnachten gar nichts anfangen können, Stoiker, Philosophen und ästhetische Idealisten, mißliebig beobachtet, gar diskriminiert werden. Denn sie berufen sich ebenfalls auf die Freiheit und frei machende Kräfte, die jeden wohltätig in Bewegung setzen, der bereit ist, sich ihnen anzuvertrauen und dem Tag mit seinen Ansprüchen zu mißtrauen. Goethe riet jedem, der hinter sich her war auf der Suche nach einem geglückten Leben: Geselle dich zum kleinsten Kreis. Dies ist die Botschaft nicht für jeden, die aber alle jene beherzigen, die nicht vor dem Tag und der Aktualität verzagen wollen. Nur Minderheiten kennen heute noch die christliche Verkündigung, und nur sehr wenige lassen sich auf Seneca oder Marc Aurel ein. 

Um Ferne zur Gegenwart bemühen und damit um Gelassenheit

Wer aber während der angeblich „stillen Tage“ tatsächlich die Ruhe sucht und bewußt der Welt abhanden kommt, begnügt sich nicht mit diesen drei Tagen. Er bedenkt das ganze Jahr und die unberechenbare Zeitlichkeit. Er wird sich bei allen Gelegenheiten um Ferne zur Gegenwart bemühen und damit um Gelassenheit. Diese wenigen ergeben sich nicht dem feinen Luxus des Selbstgenusses. Sie wirken mit der Kraft des Schweigens und der Stille auf alle Zeitgenossen in nicht leicht einzuschätzender Weise. Die frühen Christen achteten nicht sonderlich auf das allgemeine Wesen und versuchten in widrigen Zeiten, klug wie die Schlangen, mancherlei Unbill zu überstehen. Ihre kleinen, verketzerten Gemeinschaften zogen andere an, und nach und nach wurden die Christen zu einer starken Schar, die mit ihrer Freiheit Staat und Gesellschaft veränderten.

Wer sich heute weigert, mitzutun bei dem, was alle tun, fällt als Sonderling auf. Aber gerade er und seine Gefährten hüten Güter, die irgendwann einmal wieder erstaunliche Anziehungskräfte entwickeln können, da ja alles Gewordene in der Geschichte verlischt, verglüht und neues Leben aus den Ruinen entspringt.

Die Verfechter der allerneuesten Neuzeit im unendlichen Projekt der Moderne sind davon überzeugt, daß die Geschichte ihr Ziel und ihr Ende erreicht hat. Doch die Geschichte geht weiter, weil der Mensch als Herr der Geschichte mit der Freiheit, die ihm als Ebenbild Gottes eignet, beiseite zu schieben vermag, was ihm und seiner Freiheit im Wege steht. Die geistig Freien, ob Christen oder Stoiker, durchaus verschieden voneinander trotz mancher Ähnlichkeiten, schaffen in Seelenruhe und froher Distanz zur Gegenwart an den Grundlagen anderer Zeiten. Sie fürchten sich nicht – und dieser Mut steckt irgendwann andere an.

Deshalb die Furcht der systemrelevanten Sinnstifter und Organisatoren. Sie teilen die Furcht des Herodes vor dem Kinde, das als Christus-König sämtlichen irdischen Gewalten die Legitimation entzog. Herodes, der wütende Ängstliche, endete elendiglich. Der Furchtlose ist der Mutige und der Wandler der Welt. Er ist der Freie, der sich gar nicht zu fürchten braucht vor all den Mimes und Alberichs, den Technikern der Macht und des Erfolges, den System- und Projekteschmieden, die scheitern, weil sie den unabhängigen Geist nicht achten, vielmehr verachten. Es sind die Stillen im Lande, die bei scheinbarer Ohnmacht in diesen Zeiten andere vorbereiten.

Foto: Wilhelm Kretzschmer, Christus gebietet dem Sturm Einhalt, Öl auf Leinwand, 1884: Die geistig Freien schaffen andere Zeiten