© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Kultur als Sukzession: Zum Grundzug einer konservativen Kulturtheorie
Prüfet alles, das Gute behaltet
Boris Preckwitz

Die Kultur einer Zeit bildet eine eigene Geisteslandschaft – die gegenwärtige begegnet unserem Blick in Zerstückelung und Zerwürfnis. Als „Verlust der Mitte“ beschrieb der Kunstwissenschaftler Hans Sedlmayr den mit der Moderne einsetzenden Prozeß des Stil-Zerfalls. Beraubte man, so sein Gedankengang, einen aristokratischen Landschaftsgarten seines Schlosses, „so würde man noch fühlen, daß hier, an dieser Stelle eine Mitte gewesen sein muß, auf die sich das Ganze bezog“ – ein wirkendes Prinzip, das himmlisches und irdisches Walten in der sinnstiftenden Einheit eines Weltbildes faßte.

In ganz realer Weise ist die Kulturwissenschaft ihrer Mitte beraubt worden, seit der Postmarxismus und Poststrukturalismus der Linken die Kulturen des Westens untergraben. Eine geistige Herausforderung unserer Gegenwart besteht also darin, eine konservative Kulturtheorie zurückzugewinnen und dafür die entsprechenden Vordenker und Traditionen zu aktualisieren.

Als Integralbegriff zeigt sich der Begriff der Sukzession. Sukzession meint ein generatives Folgeprinzip, das Menschen und Körperschaften fortwirkend für die Gemeinschaft verbindet. Sie gründet geschichtlich in den Bezirken von Herrschaft und Glaube, die ihre Legitimation bewahren in der Folgerichtigkeit von Amtsträgerschaft und Funktionsleistung. Seit Jahrtausenden sind Kultur und Kunst, Kirche und Wissenschaft, Staatshandeln und Wirtschaft an sukzessive Strukturen gebunden. Entscheidend ist: Sukzession bindet Bestandserhaltung an Zukunftserwartung. Es ist ein rückbezügliches, weil vorauswirkendes Prinzip, das in ihr zur Wirkung kommt, eine Destination über den Verlauf der Geschichte.

Um zum Verständnis der kulturellen Sukzession zu gelangen, führt der Weg über hinleitende Begriffe, und als solcher eignet sich der Begriff der Restitution. In der Rechtspflege des antiken Rom bezeichnete die restitutio in integrum die Wiedereinsetzung einer Partei in einen vormaligen, unverletzten Rechtszustand, etwa durch Wiederaufnahme des Verfahrens oder Aufhebung eines Rechtsgeschäftes. Dieser Tage verhandelt die kulturpolitische Debatte mit dem Restitutionsbegriff die Rückerstattung von Kulturgut, das infolge von Krieg oder Diebstahl seine territoriale Zugehörigkeit gewechselt hat, an die Herkunftsnation.

Rückgabeforderungen haben durchaus ihre Berechtigung, doch in vielen Fällen stehen ihnen mehrfache Eigentumswechsel und unklare Erbverhältnisse entgegen. Wer sind die berechtigten Nachfahren der Trojaner oder Goten? Sollen mittelalterliche Codizes, deren Seiten auf Bibliotheken verschiedener Länder verteilt sind, an das Ursprungskloster zu erstatten sein? Gehört die Reichskrone der Ottonen wirklich in ein Museum in Wien? Grundsätzlich kann Kulturgut, in einem besitzrechtlichen Sinn von Sukzession, zum Vermögen einer Gesellschaft gerechnet werden, seine Übertragung von Generation zu Generation erfolgt identitätswirksam. Soweit es deutsches Kulturgut betrifft, ist es vorrangig an der Zeit, Restitution im eigenen Land zu leisten.

Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts richteten vor allem Sozialisten und Sozialdemokraten, die das Entstehen beider Weltkriege auch als eigenes Versagen zu verstehen hatten, eine externalisierte Abrißwut gegen die symbolischen Formen der Mitte – Schlösser, Kirchen, Verwaltungsbauten, Denkmäler. Es war nicht nur der generationenlange Kriegszustand zwischen 1914 und 1945, der im autoaggressiven Abbruchwahn der Nachkriegszeit fortlebte. Es war ein Zerstörungswerk, das verdeutlicht, was dem utopischen linken Gesellschaftsentwurf vorhergehen sollte: die Beseitigung vielhundertjähriger kultureller Sukzession. Doch selbst in den Leerstellen behielt das versehrte Deutschland die Spuren jenes heimischen Kulturerbes, dessen sich die Gesellschaft im Inneren beraubte, durch Kriegsverluste und Bilderstürme, durch Sprengung und Schleifung, durch Vergessen und Verdächtig-Machen, durch Verschließen in Magazinen und sinistre Zuschreibungen. Dieses vorenthaltene Kulturgut gilt es so originär wie möglich der Nation zu restituieren. Die heutigen deutschen Staatsbürger haben ein Eigenrecht auf ihr gesamtes kulturelles Erbe und Vermächtnis.

Kulturelle Restitution geschieht, wenn vormals Vorhandenes und Vorgesehenes erstattet wird und wieder die ursprüngliche, eigentümliche Sinnbeziehung zur Kulturgemeinschaft entsteht. Insofern bedeutete der jüngste Nachbau des Berliner Stadtschlosses im bildlichen Sinne eine Naturalrestitution. Durch den Baukörper wurde weit mehr als die Berliner Mitte in ihrer Stilwirkung wiederhergestellt. Die originären Schloßbaumeister – Schlüter, Eosander, Stüler, Schadow – rückten mit ihrem Werk wieder in jenes Stadtbild, das jahrhundertelang als Gesamtkunstwerk gewachsen war, gestaltet von Architekten wie Boumann, Knobelsdorff, Langhans, Schinkel, Gerlach, Memhardt, Ihme und Raschdorff: eine Fügung und ein sinnbildliches Zusammenrücken gesellschaftlicher Systeme, von Krone und Kirche über den militärischen Konnex zur Kultur mit ihren Bühnen, Bibliotheken, Bildungsinstituten und musealem Besitztum. Es versinnbildlicht, was Kultur als Eigentum und Depositum auch ist: die stetige Akkumulation des kulturellen Kapitals einer Gesellschaft.

Somit ist ersichtlich, warum der Linkskulturalismus für eine Gesellschaft so miserabel ist – sinistre Politik vergeudet den Kapitalstock einer Kultur. Gerade der Zusammenhang und Zustand öffentlicher Gebäude – man denke auch die Agora von Athen, das Forum Romanum oder die Wiener Ringstraße – bilden die kulturelle Verfassung und politische Verfaßtheit eines Staates ab. Kulturraum ist der selbstgewisse Ausdruck politischer Konstitution.

Jüngste Rekonstruktionen von geschichtlichen Stadträumen – die Altstadtmärkte von Dresden und Potsdam oder das Lübecker Gründungsviertel – beweisen, daß es ein tiefes Bedürfnis der Bürgergemeinschaft ist, gar eine anthropologische Konstante, ihre eigene Fortdauer zu erleben. Kulturgüter sind wesentlich darauf angelegt, sich durch ihre eigene Substanz der Nachwelt zu erhalten. So geschehen in Dresden – als die Stadt 1945 in Schutt und Asche sank, trotzten dem Feuersturm jene Porzellanfliesen, die an der Außenwand des Stallhofes den „Fürstenzug“ der Wettiner darstellen: die Geschlechter- und Erbfolge der Landesherren vom frühen Mittelalter bis in die Moderne. Kaum ein anderes Kunstwerk in Deutschland stellt so bildhaft dar, was eingangs als Zentralbegriff einer konservativen Kulturtheorie gesetzt worden ist: die Sukzession. Der Fürstenzug am restaurierten Residenzschloß bildet die Mitte zwischen der Galerie des Zwingers, entlang der Semperoper, zur rekonstruierten Frauenkirche. Dort führt, nach Jahrzehnten sozialistischer Diktatur, der symbolische Weg der Wiederauferstehung der geschichtlichen Stadt, gar Sachsens und Mitteldeutschlands insgesamt.

Es erweist sich, was das Weltbild der Mitte im konservativen Sinn kennzeichnet: Wertschöpfung durch Werkschöpfung. Zugleich bezeugen die Rekonstruktionen jene „schöpferische Restauration“, wie sie im Jahre 1927, als die Welt nichts ahnte von den Vernichtungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, der Schriftsteller Rudolf Borchardt beschrieb: „wir sind uns durchaus und fest bewußt, unsere Arbeit der Restauration, da wir sie schöpferisch anfassen, nicht als Reaktion zu betreiben, sondern, wenn Ihnen das Wort Revolution hier bedenklich klingt, als eine Reformation an Haupt und Gliedern.“ Stilsicher umging Borchardt den zeitgleich durch Hugo von Hofmannsthal geprägten Begriff der „konservativen Revolution“, dessen Selbstwiderspruch er wohl ahnte. Eine Revolution von rechts ist eine Konterrevolution und muß sich stets der Mittel ihrer Gegner bedienen. Der Konservatismus ist seinerseits auf Revisionen angelegt und sucht die Erhaltung oder Verbesserung gesetzter Ordnung zur erneuten Bewährung.

Als unlängst in Frankfurt am Main ein brutalistischer Klotzbau linker Stadtplanung endlich beseitigt und das Quartier zwischen Kaiserdom und Römer rekonstruiert werden konnte, erhielt der „Krönungsweg“ wieder seine menschlichen Maße. Diese bürgerliche Gasse beschritten die Kaiser des Deutschen Reiches vom 16. bis 18. Jahrhundert nach ihrer Salbung beim Prozessionszug zum Mahl mit dem Reichsadel im Kaisersaal des Rathauses. Es ist die symbolische Engführung einer Staatssukzession, die auf römischen Befestigungen beginnt, Reste von karolingischen und ottonischen Kaiserpfalzen birgt und auf dem weiteren Geschichtsweg hin zur Paulskirche von der Reichswirklichkeit und der Konstitution der deutschen Nation berichtet.

Die deutsche Geschichte kennt sehr glückliche Epochen der Restauration, nach Wirren innerer und äußerer Kriege ein wunderbares Aufblühen der Kultur: in der Karolingischen und Ottonischen Renovatio, in der Renaissance und der Aufklärung, in der Romantik und dem Historismus. Wir heutigen Deutschen dürfen uns glücklich schätzen für die deutsche Wiedervereinigung, denn sie hat vor einer Generation die Grundlage geschaffen für ein Heilwerden an der eigenen Geschichte. So sendet der Restaurations-Ton Rudolf Borchardts auch ein konziliares Erneuerungsgeläut zur „restitutio in integrum, von dem wir jedes Stück mit der Heiligkeit befestigen, die dem Ganzen zukommt und mit Gedanken, die über den Tag und unsere Lebensfrist hinaus die Gedanken der Ungeborenen aus dem Nichts emporfordern“.

Borchardts gleichsam soteriologisches Programm, „Wunden zu heilen, Glieder zu schienen, Zerstreutes zu sammeln“, verweist auf das Bild, das die Paulusbriefe vom mystischen Leib Christi zeichnen. Es darf auch als Sinnbild für die Arbeit gelten, die eine Kulturwissenschaft im konservativen Sinne zu leisten hat: eine Einheit von Begriffssystem und politischer Praxis – im Sukzessionismus als Theorie und einer konservativen Rekonstitution im Staatshandeln.






Boris Preckwitz, Jahrgang 1968, arbeitet im Marketing und der PR. Er studierte Literaturwissenschaft in Göttingen und Hamburg sowie Management in Berlin. Er veröffentlichte Essays, Lyrik und Dramen und wurde mit Autorenpreisen ausgezeichnet. Heute lebt er in Hannover, wo er ein kulturpolitisches Debattenforum vorbereitet, die August W. Rehberg-Gesellschaft.

Foto: Der Fürstenzug am Residenzschloß in Dresden (Ausschnitt): Kaum ein anderes Kunstwerk in Deutschland stellt so bildhaft dar, was den Zentralbegriff einer konservativen Kulturtheorie darstellt: die Sukzession