© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Der Kaiser im Kampf mit dem Großherrn
Klaus-Jürgen Bremms Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Habsburgern und Osmanen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert
Dag Krienen

In der 1808 veröffentlichten Tragödie läßt Goethe Faust sinnen: „Nichts besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen“. Daß türkisches „Kriegsgeschrei“ vor hundert Jahren zuvor nicht ungefährlich „weit hinten“, sondern noch in bedrohlicher Nähe, vor den Toren Wiens, erklungen war, stellte schon damals nur noch eine ferne Erinnerung dar. 

An die Zeiten bedrohlicher Nähe erinnert das neuste Buch des Militärhistorikers Klaus-Jürgen Bremm. Darin beschäftigt er sich mit dem über dreihundert Jahre währenden Machtkampf zwischen den Reichen der Habsburger und der Osmanen, aber auch den Konflikten der anderen christlichen Mächte mit dem Sultan in Konstantinopel, darunter den Seekriegen im Mittelmeer, wo es einer fragilen Koalition 1571 gelang, in der Seeschlacht von Lepanto die maritime Suprematie der Osmanen zu zerbrechen. Doch war eine solche große Allianz vieler Mächte „wider die Tuercken“ eine Ausnahme. Kern des europäischen Widerstands gegen die Sultane in Konstantinopel waren jahrhundertelang die habsburgischen Kaiser in Wien; die wichtigsten Schlacht- und Kampffelder lagen in Ungarn und auf dem Balkan.

Das Reich der Osmanen war nie ein vornehmlich asiatisches. Der Aufstieg eines von einer turkstämmigen Dynastie beherrschten anatolischen Kleinfürstentums zu einer Großmacht begann um 1350 mit der – auf Einladung einer byzantinischen Bürgerkriegspartei erfolgten – Bildung eines Brückenkopfes auf dem Balkan, der rasch und noch vor der Absorption der anderen türkischen Kleinherrschaften in Anatolien ausgedehnt wurde. Serbien wurde 1389 (Schlacht auf dem Amselfeld) unterworfen, lang bevor die Osmanen 1453 Konstantinopel (heute Istanbul) eroberten und zum Zentrum ihres Reiches machten. Die Sultane betrachteten ihren in Europa gelegenen Reichsteil Rumelien („Römerland“) als wertvoller als den anatolischen („Der Osten“). Auch wenn sie sich stets als moslemische Herrscher verstanden, geboten sie zudem lange Zeit über mehr christliche als moslemische Untertanen. 

Jahrhundertelang tobte der Kampf mit den Osmanen in Ungarn

Die osmanische Expansion auf dem Balkan seit dem 14. Jahrhundert führte zum Konflikt mit den Habsburgern als den Kaisern des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Streifzüge von Akinci, auf eigene Rechnung, aber mit osmanischer Rückendeckung operierende Banden von moslemischen Plünderern, in die Krain und die Steiermark in den 1470er Jahren konnten noch mit einiger Mühe abgewehrt werden. Der eigentliche Konflikt begann mit dem Griff der Osmanen nach Ungarn, dessen Heer 1526 in der Schlacht von Mohács vernichtet wurde. Nach dem Tod des ungarischen Königs Lajos II. auf dem Schlachtfeld fielen dessen Herrschaften – neben Ungarn samt Kroatien auch die Länder der böhmischen Krone – per Erbvertrag an den Habsburger Ferdinand I. 

Doch ein großer Teil Ungarns, insbesondere die Tiefebene einschließlich der Hauptstadt Ofen (Budapest) verblieb unter direkter oder von Vasallen ausgeübter osmanischer Herrschaft. Das Land war zweihundert Jahre lang das Hauptkonfliktfeld zwischen Wien und Konstantinopel. Große, offizielle Kriege wechselten sich mit Zeiten formaler „Waffenstillstände“ und „Friedensschlüsse“ ab, in denen der Kleinkrieg in Form von Raubzügen und Sklavenjagden lokaler osmanischer Kriegsfürsten und Vasallen meist fortgesetzt wurde.

Um 1530 versuchte Sultan Süleyman I., sein Reich durch Ausschaltung der Wiener Kaiser zur dominierenden Weltmacht zu erheben. Doch brach der kluge, aber auch risikoscheue Süleyman 1529 eine erste Belagerung Wiens aufgrund der fortgeschrittenen Jahreszeit nach wenigen Wochen ab und wich auch in den folgenden Jahren einer großen Entscheidungsschlacht am Ende aus. Der zähe Kleinkrieg und gelegentliche große Krieg in und um Ungarn ging indes weiter. Die Belastungen des Osmanischen Reiches an anderen Fronten, insbesondere die kräftezehrenden Kriege gegen das schiitische Safawiden-Reich in Persien zwischen 1578 und 1638, erlaubten es den österreichischen Habsburgern zeitweise, sich auf andere Gegner zu konzentrieren (Dreißigjähriger Krieg). 

Nach dem Ende der Perserkriege versuchte Konstantinopel aber, nochmals an die alte Herrlichkeit Süleymans anzuknüpfen und erneuerte unter dem Großwesir Mustafa Kara den Vorstoß auf Wien, das 1683 einer zweiten, diesmal sehr bedrohlichen Belagerung verfiel. Gerade noch rechtzeitig erfolgte der Entsatz der Stadt durch ein von dem polnischen König Johann III. Sobieski geführtes Heer aus Truppen des Kaisers, Polens und der Reichsfürsten, denen es in der Schlacht am Kahlenberg am 12. September 1683 gelang, den Osmanen eine vernichtende Niederlage zu bereiten. Bis zum Ende des Jahrzehntes gelang es den Habsburgern, fast ganz Ungarn zu befreien. Nach dem Sieg des Prinzen Eugen bei Zenta 1697 erkannte Konstantinopel Wiens Herrschaft über Ungarn endgültig an (Frieden von Karlowitz 1699). Weitere Siege Eugens führten zwanzig Jahre später zum Erwerb des Banats, Belgrads/Nordserbiens und Teilen der Walachei (Frieden von Passarowitz 1718). Damit war der Kulminationspunkt der habsburgischen Expansion auf dem Balkan erreicht.

Europäische Großmächte behinderten sich gegenseitig

Zum einen erwies sich der osmanische Löwe noch nicht als völlig zahnlos. 1739 endete der kurze vorletzte Türkenkrieg Wiens, von unbegabteren habsburgischen Generälen geführt und einer konfusen Politik des Kaisers geprägt, mit dem Verlust von Belgrad und der Walachei. Und zum anderen löste im 18. Jahrhundert das russische Zarenreich die Wiener Habsburger als wichtigsten und gefährlichsten Gegner der Osmanen ab. In seinem letzten Türkenkrieg 1787 bis 1790 agierte Österreich nur noch als Verbündeter Rußlands und mußte trotz einiger Erfolge aufgrund preußischen Drucks einem Status-quo-ante-Frieden zustimmen. Für Bremm markiert der osmanisch-russische Krieg von 1768 bis 1774 das Ende des Osmanischen Reiches als Großmacht, das nach Rußlands Durchbruch zum Schwarzen Meer und der Annexion der Krim 1783 sich allein der Russen kaum mehr erwehren konnte. 

Tatsächlich war Wien schon seit 1720 an der Eroberung weiterer großer Gebiete des Osmanischen Reiches nicht mehr interessiert, um nicht dessen völligem Zusammenbruch Vorschub zu leisten. Denn in diesem Fall drohte die europäische Konkurrenz, insbesondere Rußland durch eine Inbesitznahme Konstantinopels, weit größere Gewinne als Wien einzuheimsen. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts hing die Fortexistenz des Reiches der Sultane davon ab, daß sich die europäischen Großmächte gegenseitig daran hinderten, sich große Stücke aus dem Fleisch des „kranken Manns vom Bosporus“ herauszuschneiden. 

Bremm stellt die Geschichte des drei Jahrhunderte währenden Machtkampfes zwischen Konstantinopel und Wien wie gewohnt in einer auch für Laien gut lesbaren Form dar. Was man vermißt, ist eine Erklärung, warum das zu Zeiten Süleymans den christlichen Mächten militärisch nicht nur numerisch, sondern auch taktisch überlegene Osmanische Reich gegenüber diesen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts ins Hintertreffen geriet. Bremm weist auf die Aufstellung stehender Heere wohldisziplinierter, in festen Formationen kämpfender Soldaten in Europa seit 1650 hin. Möglich wurden das Aufstellen und die Finanzierung solcher Truppen aber erst durch die Entwicklung des modernen, bürokratisch verwalteten, europäischen Staates. 

Die Frage ist, warum es den Osmanen trotz aller Reformversuche seit dem 18. Jahrhundert nie gelang, diese durchaus von ihnen erkannte Entwicklung nachzuvollziehen. Bremms Bemerkung über die Korruption und den Nepotismus im Reiche der Sultane kratzt nur an der Oberfläche, ebenso sein Verweis auf die „parasitäre Existenz des osmanischen Staates, der jahrhundertelang in kaum vorstellbarem Umfang Güter, Menschen und Fachwissen aus den christlichen Ländern ansaugte, ohne dafür Bedeutsames zurückzugeben“. Doch kann man von einem kriegsgeschichtlichen Werk eine erschöpfende Antwort auf die Frage nach den letzten Ursachen für den Verfall eines Reiches wohl nicht auch noch erwarten. 

Klaus-Jürgen Bremm: Die Türken vor Wien. Zwei Weltmächte im Ringen um Europa. WBG im Theiss-Verlag, Darmstadt 2021, gebunden, 462 Seiten, 29 Euro

Foto: Der Entsatz des belagerten Wien in der Schlacht am Kahlenberg 1683: Militärisch waren die Osmanen in fast allen Belangen überlegen