© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Grenzland von Drache und Bär
Der Historiker Sören Urbansky an den Ufern des Amur zwischen Sibirien und Mandschurei
Erich Weede

Sören Urbansky ist ein polyglotter deutscher Historiker. Er arbeitet am Deutschen Historischen Institut in Washington, spricht sowohl Russisch als auch Chinesisch. Diese Sprachen hat er in Kasan und Harbin gelernt. Ehemalige Studienkollegen waren oft Kontaktpersonen und Gastgeber auf seiner Reise. Ohne diese Sprachkenntnisse hätte er diese Reise auf eigene Faust kaum machen können. Er ist kein Kunsthistoriker, sondern interessiert sich in erster Linie für Wirtschaft und Politik, dafür wie die Menschen leben, was sie denken und sagen. Deshalb berichtet er kaum über Kunstschätze und viel über Grenzen und Krieg, über Industrialisierung und Gefangenenlager, über Vertreibungen und Kriegsverbrechen. 

Sein Reisebericht über Nordostasien ist so eigentümlich wie ein Reisebericht über Europa es wäre, der Versailles und die Altstadt von Prag, den Petersdom in Rom und die Burgen am Rhein ausspart, aber die Schlachtfelder von Verdun, die Industrie an der Ruhr und das KZ in Auschwitz behandelt. Obwohl er zweimal auf seiner Reise durch die Millionenstadt Shenyang in der chinesischen Provinz Liaoning gekommen ist, steht in dem Buch kein Wort über den Palast der Mandschus dort, der eine Art kleiner Bruder der Verbotenen Stadt in Peking ist. Denn die letzte Dynastie des kaiserlichen China stammt von dort, aus der Mandschurei. 

Die Reise beginnt in Irkutsk am Baikalsee, einem Ort mit für sibirische Verhältnisse mildem Klima, was im Winter bedeutet, daß die Temperatur selten unter minus 20 Grad fällt. Von dort geht es über die Äußere Mongolei in die Innere Mongolei. Die Äußere Mongolei war in der chinesischen Kaiserzeit ein Tributgebiet, danach wurde sie der erste sowjetische Satellitenstaat, ist heute selbständig und wirtschaftlich immer enger mit China verbunden. Die Innere Mongolei gehört zu China. Im Grenzgebiet liegt die Stadt Nuomenhan, wo es im Sommer 1939 Kämpfe zwischen sowjetischen und japanischen Truppen gab, die die Mandschurei besetzt und dort einen Satellitenstaat namens Mandschukuo errichtet hatten. Der sowjetische Sieg bei diesen Kämpfen hat vermutlich dazu beigetragen, daß die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg keinen Zweifrontenkrieg führen mußte. 

Danach beschreibt Urbansky die Ölstadt Daqing, die lange wesentlich zur Ölversorgung von ganz China beigetragen hat und die auch in der maoistischen Propaganda eine wichtige Rolle spielte. „Lernen von Daqing“ war zeitweise eine ständige Parole. Die nächste Station Harbin war und ist ein wichtiger Bahnknotenpunkt auf der Strecke von Moskau nach Wladiwostok, vor dem Ersten Weltkrieg unter russischem Einfluß, nach der russischen Revolution lange von russischen Emigranten geprägt. Sie ist auch Ausgangspunkt einer Bahnlinie nach Port Arthur, heute Lüshunkou, am Gelben Meer, das zeitweise zaristischer Kriegshafen war, dann unter japanische Kontrolle geriet, nach 1945 noch einmal für ein Jahrzehnt unter sowjetische und erst seitdem wieder Teil Chinas ist. 

Ungleiche Verhältnissse zwischen China und Rußland 

In der Nähe von Harbin liegt Pingfang, wo die Japaner einige tausend Menschen bei Versuchen grausam ermordet haben, was in der chinesischen Propaganda trotz des Unterschieds in der Größenordnung der Opferzahlen als „asiatisches Auschwitz“ bezeichnet wird. Im Südosten der Mandschurei (Provinz Jilin) hat Urbansky ein autonomes Gebiet der Koreaner besucht. Koreaner sind wohl die einzige Minderheit in China, die sich nicht durch größere Armut als das Mehrheitsvolk der Han-Chinesen auszeichnet. Bei seiner Reise in der Mandschurei macht Urbansky im Speisewagen die selbständig Reisenden in sozialistischen Ländern vertraute Erfahrung, daß das Personal natürlich Vorrang vor den Gästen hat.

Auf russischer Seite der Grenze werden noch Tschita, Blagoweschtschensk, Chabarowsk und Wladiwostok beschrieben. Manche Chinesen bezeichnen diese Gebiete auch als Äußere Mandschurei. Während in der Zarenzeit der russische Teil des Fernen Ostens wirtschaftlich höher entwickelt war als die damals noch viel dünner als heute besiedelte Mandschurei, ist es heute umgekehrt. In der Zarenzeit lebten auch viele Chinesen auf der russischen Seite der Grenze. Als im Sommer 1900 die Chinesen aus Blagoweschtschensk vertrieben wurden und dabei etwa 3.000 Menschen im Amur ertranken, mußte Rußland die Chinesen aus wirtschaftlicher Notwendigkeit bald wieder ins Land kommen lassen. Erst in Sowjet-Zeiten kam es zu einer ethnischen Trennung. Heute äußert sich das zunehmende wirtschaftliche Übergewicht Chinas darin, daß auf russischer Seite der Grenze oft russische Strohmänner die Geschäfte chinesischer Eigentümer und Hintermänner führen. 

Politisch sind Chinesen und Russen wieder Brüder, obwohl es noch 1969 militärische Auseinandersetzungen gab und China unter Mao sich zeitweise dem Westen zuwendete. Aus Urbanskys Wiedergabe von Gesprächen ergibt sich aber ein reichhaltiges Menü von Vorurteilen und Mißtrauen auf beiden Seiten. Chinesen halten die Russen für faul und allzu oft besoffen, die Russen die Chinesen für hinterlistig, geizig und gefährlich. Auch die Geschichte belastet zumindest potentiell die russisch-chinesischen Beziehungen. Denn China hat im 19. Jahrhundert ein Gebiet von der Größe Frankreichs plus Deutschlands an Rußland verloren. Noch Mao beklagte diese ungleichen Verträge. 

Heute fällt vor allem die Ungleichheit der Demographie und der Wirtschaftskraft auf. Auf der russischen Seite der Grenze leben nur noch etwa 6 Millionen Menschen, weniger als allein im Großraum Harbin auf der chinesischen Seite. Auf russischer Seite wurde sogar die Straßenverbindung zwischen Moskau und dem Pazifik erst 2010 fertig, während auf chinesischer Seite zunehmend Autobahnen gebaut werden und Hochgeschwindigkeitszüge rollen. China ist für Rußland ein wichtiger Handelspartner, umgekehrt ist Rußland für China nur Rohstofflieferant. Das Verhältnis der Wirtschaftskraft vor fünfzig Jahren war ungefähr vier zu eins zugunsten der Sowjetunion, heute entspricht es ungefähr dem demographischen Gewicht, also zehn zu eins zugunsten Chinas. Der Glaube an oder die Hoffnung auf ein Ende der Geschichte war nie überzeugend. An den Ufern des Grenzflusses Amur gilt das noch mehr als anderswo. 

Sören Urbansky: An den Ufern des Amur. Die vergessene Welt zwischen China und Rußland. C.H. Beck, München 2021, gebunden, 375 Seiten, 26 Euro

Foto: Die Fünf-Millionen-Metropole Harbin in der chinesischen Amurprovinz: Mehr Einwohner als in der riesigen sibirischen Provinz