© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/21 - 01/22 / 24. Dezember 2021

Darwins und Mendels Erben
Alex Langes eröffnet einen düsteren Ausblick auf das Ende der menschlichen Entwicklung
Dieter Menke

Mit Corona tauchte eine Bekannte aus den Tagen des Biologieunterrichts wieder auf: die „Mutante“. In Gestalt von „Omikron“ aus Südafrika verdrängt die jüngsten Veränderung des „Chinese Virus“ (Donald Trump) nun die „Delta“-Version aus Indien – bis die nächste Virus-Mutation das Feld übernimmt. Viren, die sich schnell verändern, indem sie ihr Ansteckungspotential erhöhen, um im „Kampf ums Dasein“ zu bestehen: Das scheint die jüngste und weitaus eindrucksvollste Bestätigung der Evolutionstheorie zu sein.

Wer so denkt und sich dabei auf sein Schulwissen verläßt, für den hält Axel Langes opulenter Überblick über die „Evolutionstheorie im Wandel“ einige Enttäuschungen parat. Vor allem das zum Schlagwort des „Sozialdarwinismus“ gewordene „Survival of the Fittest“, das im Kern wirklich ein Paradigma der klassischen Evolutionstheorie ist, so wie es ihr Urheber Charles Darwin (1809–1882) in seinen beiden Hauptwerken über „Die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion “ (1859) und „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (1871) konzipiert, hat in ihren modernen, erweiterten und wesentlich komplexeren Fassungen erheblich an Gewicht eingebüßt.

Es ist sozusagen im Ausleseprozeß der biologischen Forschung in deren heutigem Theoriedesign in den Hintergrund gerückt. Zudem spielen Mutationen, sprunghafte Veränderungen im Phänotyp einer Art aufgrund dauerhafter Änderungen des Erbguts, bei Darwin schon deshalb nur eine hypothetische Rolle, weil ihm die von Gregor Mendel aus Mähren 1865 entdeckten Regeln der Vererbung unbekannt waren. Seine auf Mendel sich stützenden Nachfolger mußten dann zur Kenntnis nehmen, daß vererbliche Abänderungen die Überlebensfähigkeit von Individuen einer Population nicht automatisch steigern, da Mutationen in der Regel eher ungünstige als vorteilhafte Abänderungen bewirken.

Nicht unter die Räder des wissenschaftlichen Fortschritts ist jedoch die revolutionäre Grundidee der von Lange zu Recht so genannten „Jahrtausendtheorie“ Darwins geraten: Die natürliche Selektion ist der Mechanismus, der alles evolutionäre Geschehen auf der Erde seit der Entstehung organischen Lebens bestimmt. Daraus folgt, daß alle Arten eine Abstammungsgeschichte haben, und alle Tiere (einschließlich des menschlichen Säugetiers) und Pflanzen auf bakterienartige Einzeller zurückgehen, die vor drei Milliarden Jahren den Planeten „besiedelten“.

Für übernatürliche, religiöse oder metaphysische Erklärungen der Wirklichkeit, bleibt in der Evolutionstheorie also kein Raum mehr. Insoweit ist die von Lange im Untertitel gestellte Frage, ob Darwin überholt sei, rein rhetorisch. Trotzdem enthielt seine Theorie „zwei große Lücken“, auf die der Engländer selbst früh aufmerksam wurde. Da Darwin aber noch nicht über das Wissen der Genetik verfügte, konnte er über das Wie der Weitergabe jener für den Überlebenskampf vorteilhaften Merkmale nur rätseln, und auch auf die Frage nach dem Woher der der Auslese unterliegenden Variationen fand er keine Antwort. So handelt seine Theorie zwar vom „Survival“, dem Überleben dem am besten Angepaßten, nicht aber vom „Arrival of the Fittest“, deren erstmaligem Erscheinen.

Synthetische Evolutionstheorie und Ideen aus dem Silicon Valley

Langes Wissenschaftsgeschichte der Evolutionstheorie erzählt davon, wie die biologische Forschung diese Lücken in den letzten 140 Jahren nach Darwins Tod zu schließen versuchte. Dafür gibt er zunächst einen kurzen Überblick bis zur Formierung der Darwin und Mendel, Evolution und Vererbung, verschmelzenden, in den 1930ern entstandenen „Synthetischen Evolutionstheorie“, die das gegenwärtige Standardmodell der Evolution ist, das mittlerweile durch eingängige Darstellungen wie Richard Dawkins „Gipfel des Unwahrscheinlichen“ (1999) auch einem breiterem Publikum vermittelt wurde.

Das jedoch, populationsgenetisch fixiert auf die Stammesentwicklung von Organismen, die Bedeutung der Embryonalentwicklung (Ontogenese) für das Verständnis von Evolution ignorierte. Erst die in den 1980ern als „Evo-Devo“ (von englisch „evolution“ und „development“) auf den Plan getretene Forschungsrichtung, der Lange ein Drittel seines Buches widmet, um dabei häufiger von seinem didaktisch sonst so leserfreundlichen Kurs abzuweichen und sich in Details zu verlieren, konnte solche „Lücken“ der „Synthese“ schließen. Daß auch damit der Theorierahmen nicht definitiv abgesteckt ist, deutet Lange in einem kurzen, leider mit präzisen Abgrenzungen zur „Synthese“ und zu „Evo-Devo“ geizenden Kapitel über die „Erweiterte Synthese der Evolutionstheorie“ wenigstens an.

Spannend wird es dann noch einmal im exkursartigen Kapitel über Theorien zur Evolution des Denkens, das prüft, was die „Synthese“ über Bewußtsein und Empathie mitzuteilen hat. Obwohl die Beiträge zur mittlerweile heller ausgeleuchteten „Naturgeschichte des Denkens“ Meilensteine sind, die über die Bedeutung zwischenmenschlicher Kooperation als neuen Faktor der Evolution aufklären, scheinen hier Grenzen der Wissenschaft erreicht, da „die Erforschung des Bewußtseins bis heute auf unsicherem Fundament steht“ und „es uns noch sehr lange, ja vielleicht auf immer beschäftigen“ werde.

Zumindest so lange, wie die Evolutionsgeschichte des Menschen noch dauert. Denn gerade die Evolution des Gehirns könnte Entwicklungen ermöglichen, die den Menschen in der von ihm geschaffenen „Technosphäre“ zunächst zum Anhängsel von Maschinen degradiert, bevor er dann sukzessive verschwindet, nach Ablösung der menschlichen Spezies durch artifizielle Superintelligenz. Solche technologisch-posthumanistischen Szenarios, wie sie menschenfeindliche Futuristen aus dem kalifornischen Silicon Valley entwerfen, die davon träumen, ihre Gehirne auf Festplatten zu konservieren und sie auf kosmische Abenteuerreisen zu schicken, seien weder als Utopien noch als Dystopien abzutun. Vielmehr sollten sie als „ernstgemeinte Prognosen einer am Horizont der nicht mehr ganz so fernen Zukunft heraufdämmernden Ära des Posthumanen“ verstanden werden.

Beschlossen wird Langes Einführung in die Evolutionstheorie, die das Zeug zum Standardwerk hat, mit einem 30seitigen Glossar der wichtigsten Fachbegriffe, von Adaption bis Zytoplasma, und einem Gelehrten-Katalog mit Kurzbiographien führender Evolutionsforscher des 20. und 21. Jahrhunderts. Die mit Ausnahme zweier stark von Konrad Lorenz geprägter Österreicher (Rupert Riedl und Gerd B. Müller, Axel Langes Lehrer) und dem an der Indiana University in Bloomington tätigen deutschen Hornkäfer-Experten Armin Moczek, überwiegend dort lehren und forschen, wo seit 1945 für diese „Player des Neuen“ die Musik spielt: an Hochschulen in den USA, in Kanada und Großbritannien.

Darwin Correspondence Project:

 www.darwinproject.ac.uk

 darwin-online.org.uk

Axel Lange: Evolutionstheorie im Wandel. Ist Darwin überholt? Springer Verlag, Heidelberg 2021, gebunden, 449 Seiten, 39,99 Euro