© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Und Putin lächelt milde
EU plant, klimafreundliche Kernkraft zu fördern / Grüne sind außer sich
Albrecht Rothacher

Schneller als erwartet stößt sich die Ampel-Koalition an der europäischen Realpolitik. Der Brüsseler Kommissionsvorschlag, mit den 370 Milliarden Euro aus dem schuldenfinanzierten „Green Deal“ auch Atom- und Gaskraftwerke als CO2-reduzierende Übergangstechnologien zu fördern, hat absehbar, die grüne Regierungsmannschaft angesichts der Indoktrination ihrer Basis, die gerade über die Abschaltung dreier völlig sicherer und verläßlicher AKW frohlockte, voll auf dem falschen Fuß erwischt. Die FDP dagegen kann den Gasvorschlägen der Kommission einiges abgewinnen, die SPD mit den vielen Nord-Stream-2-Fans aus der Schule Gerhard Schröders sicher auch. Wie also wird sich die neue angeblich so europafreundliche Regierung verhalten?

Hysterisch alles ablehnen, sich enthalten, weiterverhandeln, wo es nichts mehr zu verhandeln gibt, oder nach der verlorenen Abstimmung – so die Forderung der Wiener grünen Umweltministerin Leonore Gewessler – gar klagen? Die Chancen für eine Ablehnung durch die nötige qualifizierte Mehrheit von 20 Mitgliedstaaten mit 65 Prozent der EU-Einwohner oder durch das Europäische Parlament stehen miserabel. Die Atomgegner Deutschland, Luxemburg, Österreich, Dänemark und Portugal zählen nur für eine Minderheit von 24,4 Prozent. Weitere Bundesgenossen sind dank ihrer doktrinären realitätsfreien „Erneuerbaren“-Agitation auch nicht zu erwarten. Zudem gilt in der EU immer noch der Euratom Vertrag als Primärrecht, der die Förderung der Atomenergie vorschreibt.

Die Rohölpreise haben sich seit 2020 auf gut 80 Dollar pro Barrel verdoppelt, ebenso wie die Spritpreise für Diesel und Benzin an heimischen Tankstellen, die auch dank Euro-Schwäche und erhöhter CO2 Steuern steigen. Die Heizölpreise zogen derweil um 65 Prozent an. Das ist nichts im Vergleich zu den Spotpreisen für Erdgas, die sich binnen Jahresfrist nahezu verzwanzigfachten. Warum? Die Stromerzeuger waren aus den langfristigen Lieferverträgen mit Rußland ausgestiegen, hatten auf höhere Erträge der von der Politik forcierten und hochsubventionierten Erneuerbaren gesetzt, die jedoch ausblieben: Bei schneebedeckten Solarpanelen und dauerhafter Flaute eigentlich keine Überraschung. Gleichzeitig blieben die zumeist von Gazprom betriebenen unterirdischen Notfall-Speicher im Sommer leer. Mit jener Verknappung stiegen die Stromkosten pro Haushalt 2021 um 40 Prozent, weit über der offiziellen Preisinflation von sechs Prozent. In der deutschen Industrie machen die explodierenden Energiepreise zum Beispiel die Aluminiumschmelze oder die Herstellung des Grundstoffes Ammoniak für Düngemittel und Chemiefasern unrentabel.

Obendrauf kommen noch das angedrohte Ende des Verbrennungsmotors bis 2050 und das graduelle Verbot von Ölheizungen ab 2026 – mit explosiven Nachfragesteigerungen für elektrischen Strom als logischer Konsequenz.

Die Abschaltung der drei Groß-AKW Grohn­de, Brokdorf und Gundremmingen, welche während der letzten fünf Jahrzehnte zuverlässig und billig die Grundlast geliefert haben, wirkt da kontraproduktiv wie das geplante Ende der AKW Emsland, Isar und Neckarwestheim und bis 2030 des letzten Kohlekraftwerks. Während Deutschland zwanghaft deindustrialisiert und die Bevölkerung verarmt und der befürchtete Blackout – der langfristige und großflächige Stromausfall – nur noch eine Frage der Zeit ist, findet das deutsche Modell des Wirtschaftssuizids keine Nachahmer. 

Selbst die meisten EU-Nachbarn sind wenig von der Kinderkreuzzugsidee gegen die eigene Energiewirtschaft beseelt. Mehrheitlich wird man in Brüssel den Atomstrom zusammen mit dem Gas zur „grünen“ also emissionsarmen Technologie adeln, mögen die deutschen Grünen auch Zeter und Mordio schreien. Deutschland würde dann zur Not mehr französischen, belgischen, niederländischen oder tschechischen Atomstrom für teures Geld importieren und über die Weisheit einer politischen Klasse rätseln, die vor elf Jahren – weil im fernen Japan ein gealtertes AKW wegen eines zu niedrig gebauten Notstromaggregates, den ein Tsunami ins Meer spülte, havarierte – als einzige Regierung der Welt den Panikknopf drückte. Ironie des Schicksals: Nur drei Wochen nach ihrer Machtübernahme werden die angeblich so internationalen und EU-föderalen Grünenminister für Klima, Umwelt und Äußeres ausgerechnet bei ihrer heiligen Kuh – dem Atomausstieg – einen politischen Schiffbruch der Sonderklasse erleiden.

Doch auch die aktuelle „Übergangstechnologie“ Erdgas schafft neue Abhängigkeiten, wie sie der Kreml gerade gemüßlich an Annalena Baerbock, der neuen Praktikantin im Außenamt, durchdekliniert. So stieg die Abhängigkeit der EU von russischem Erdgas binnen Jahresfrist von 40 Prozent auf derzeit 53 Prozent, auch weil die Erdgasförderung im mittlerweile erdbebengefährdeten niederländischen Groningen ausläuft und die USA ihr Flüssiggas lieber nach Ostasien (Korea, Japan, Taiwan) liefern, wo die Preise noch höher sind, und es an der Nord- und Ostseeküste (abgesehen von Swinemünde) keine Terminals gibt.

So sitzt Rußland, dessen staatlicher Export-Monopolist Gazprom im Vorjahr historische Höchstgewinne eingefuhr, schlicht am längeren Hebel. Da laufen die wegen des russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze angedrohten EU-Energiesanktionen ins Leere. Wer russisches Gas nicht will, bei dem bleiben eben wie weiland in der Ukraine oder in Georgien im tiefen Winter die Wohnungen kalt. Ohnehin mögen Putin und der Kreml die Berliner Ampelkoalition nicht. Sie sehen dort niemanden mit Handschlagqualitäten, sind von ihrem moralisierenden Stil genervt und fühlen sich von den Grünen, im unwahrscheinlichen Fall einer erfolgreichen Klimapolitik, in ihrem Geschäftsmodel, dem Export fossiler Brennstoffe, bedroht. Deshalb hält der Kreml die Gaslieferungen knapp und verdient prächtig. Und amüsiert sich, wie eine Umweltklage vor dem Oberverwaltungsgericht Stralsund, das Zertifizierungsverfahren bei der Bundesnetzagentur und schließlich die wettbewerbsrechtliche Prüfung durch die Europäische Kommission, die auf einer Trennung von Betreibern und Lieferanten besteht, die Freischaltung von Nord Stream 2 stoppen.