© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Eintags-Riege
Bundesversammlung: Zu Promis aus Sport und Show gesellen sich nun Virologen
Christian Vollradt

In etwas mehr als einem Monat ist es wieder Zeit für eine der kuriosesten Veranstaltungen im politischen Betrieb: die Bundesversammlung tritt zusammen. Am 13. Februar wird es eng im Plenarsaal des Reichstags, denn dann wird zusätzlich zu den 736 Abgeordneten des Bundestags noch einmal die gleiche Zahl von Personen hinzukommen, die die 16 Landtage entsenden. Zum Vergleich: Die erste Bundesversammlung im Jahr 1949 hatte noch 804 Mitglieder – und war damit nur unwesentlich größer als der aktuelle Bundestag.

Parteipolitisch gliedert sich die 17. Bundesversammlung wie folgt: 446 der insgesamt 1.472 Mitglieder werden CDU und CSU stellen, 389 die SPD, 234 die Grünen, 153 die FDP, 152 die AfD, 71 die Linke, 18 die Freien Wähler und zwei der Südschleswigsche Wählerverband. Hinzu kommen sieben Fraktionslose aus dem Bundestag und aus den Landtagen.

Kaum gebildet, wird es sich auch wieder auflösen, dieses Groß-Gremium, das nur einen Zweck erfüllt, nämlich den Bundespräsidenten zu küren. Ohne vorherige Debatte, eine bloße Stimmabgabe. Unter welchen Corona-konformen Regeln das dann im Detail ablaufen soll, darauf darf man gespannt sein. 

Stellvertretend Ärzten und Pflegern danken

Fest steht auch noch nicht, wie das gesamte Kandidatenfeld aussehen wird. Stellt die oppositionelle Union einen Kandidaten, gar eine Kandidatin auf, wie es manche aus ihren Reihen nun gefordert haben, so etwa Nordrhein-Westfalens neuer Ministerpräsident Hendrik Wüst? Genauso unbekannt ist, ob die AfD einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nominieren wird – und wenn ja, wen. Durch die Gerüchteküche in einzelnen Landesverbänden waberten gerüchteweise – unbestätigt – der Name des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland sowie der der Vorsitzenden der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, Erika Steinbach. Gauland soll aber, so ist aus Parteikreisen zu hören, schon abgewinkt haben. Offiziell hält man sich noch bedeckt. Es werde, heißt es in führenden Parteikreisen, derzeit noch sondiert. Namen will man bewußt nicht nennen, schließlich solle niemand vorab „verbrannt“ werden. Kandidieren kann jeder Deutsche, der das Wahlrecht zum Bundestag besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat.

Daß Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier, der früh seinen Hut erneut in den Ring geworfen hatte, beste Chancen auf Wiederwahl besitzt, steht außer Frage. Wie sicher eine zweite Amtszeit des bekennenden Nicht-Charismatikers aus Ostwestfalen-Lippe ist, läßt sich an der Tatsache ablesen, daß die ihn unterstützende Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP nicht nur treue Parteisoldaten in die 17. Bundesversammlung entsendet, auf deren Gehorsam in Sachen Absprachen-Einhaltung Verlaß ist. Die Mehrheit aus 776 Delegierten – also 53 Prozent – ist eine „satte“. 

Tatsächlich tritt auch diesmal wieder ein bunt gemischtes Völkchen mehr oder minder Prominenter zusammen. Wer da von den Parteien beziehungsweise ihren Landtagsfraktionen nominiert wurde, spiegelt immer auch den jeweils herrschenden Zeitgeist wider. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie ist naheliegend, daß Virologen, die zuvor als Berufsgruppe sicherlich eher ein Mauerblümchen-Dasein führten, mittlerweile Popstars oder Seifenopern-Darstellern den Rang ablaufen. Kein Wunder, wenn also neben dem wohl bekanntesten Vertreter, dem von Berlins Grünen nominierten Charité-Chefvirologen Christian Drosten, weitere seiner Standeskollegen ihr Stimmkärtchen für den Bundespräsidenten in die Wahlurne werfen dürfen: Aus Hamburg etwa die Professorin Marylyn Addo, Leiterin der Sektion für Infektiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die von der SPD-Bürgerschaftsfraktion nominiert wurde. Damit wolle man „danke sagen“, stellvertretend auch den vielen anderen Wissenschaftlern sowie dem ärztlichen und pflegerischen Personal, meinte SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf. Und die beiden Berliner Grünen-Fraktionsvorsitzenden Antje Kapek und Silke Gebel begründeten die Entscheidung ähnlich: „Mit der Entsendung Drostens wollen wir auch ein Zeichen setzen gegen die verleumderischen Angriffe auf Wissenschaftler:innen“. 

Die CDU-Fraktion entsendet den Präsidenten der Intensivmediziner-Vereinigung Divi, Gernot Marx, in die Bundesversammlung, die Grünen im bevölkerungsreichen Bundesland Christian Karagiannidis, den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN). Die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus nominierte den Intensivpfleger Ricardo Lange, auch die rheinland-pfälzische CDU hat mit Cornelia Nikolay eine Intensivkrankenschwester benannt. Nordrhein-Westfalens SPD schickt die Not- und Intensivärztin Carola Holzner, die als „Doc Caro“ in der Pandemie medial bekannt wurde, sowie die Krankenschwester Angela Steinhauer. 

Und die Genossen aus Rheinland-Pfalz nominierten die Medizinerin und Biontech-Gründerin Özlem Türeci, die sich gemeinam mit ihrem Mann Uğur Şahin bei der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs einen Namen gemacht hat. Und stellvertretend für die, die es in den Corona-Jahren schwer hatten, entsendet die SPD Schleswig-Holstein Frisörin Wiebke Exner in die Bundesversammlung.

AfD fordert Direktwahl des Bundespräsidenten

Die Flutkatastrophe im Ahrtal und in benachbarten Regionen rufen weitere Bundesversammlungsmitglieder in Erinnerung, beispielsweise der Feuerwehrmann Patrick Schöneborn aus der Eifel (für die SPD) oder der katholische Pfarrer Jörg Meyrer aus dem Ahrtal (für die CDU).

Vom Bedürfnis, ein Zeichen zu setzen, zeugt  auch die Benennung von Serpil Temiz-Unvar, Mutter eines Opfers des Amokläufers im hessischen Hanau 2020, die von Hessens Grünen nach Berlin entsandt wird. Vergleichbar auch die Nominierung des Vertreters der Nebenkläger im NSU-Prozeß, Mehmet Daimagüler, durch die nordrhein-westfälische FDP. Er sei eine „öffentlich wahrnehmbare Stimme der Hinterbliebenen und gleichzeitig Aufklärer und Versöhner“, so Integrationsminister Joachim Stamp (FDP). 

Berlins Linksfraktion schickt zudem die Sprecherin des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Ayşe Demir, in die Bundesversammlung, ihre grünen Kollegen Ferda Ataman, Sprecherin der einflußreichen Migrationslobby-Gruppe „Neue Deutsche Organisationen“ (NDO).

Dazu gibt es wie immer reichlich Zugang aus Showgeschäft und Sport. Kabarettist Dieter Nuhr (von der FDP) und Komödiant Bernd Stelter (von der CDU) etwa, zu denen sich von der SPD nominiert die Schauspieler Dietmar Bär, auch bekannt als „Freddy Schenk“ im Kölner „Tatort“ und Leonard Lansink („Wilsberg“) gesellen. Niedersachsens Grüne haben den Pianisten und Politaktivisten Igor Levit nominiert. Auch eine Berliner „Dragqueen“ mit Künstlernamen Gloria Viagra ist dabei. Wie sie (oder er) auch von der Linkspartei nominiert ist die Rapperin Reyhan Şahin („Lady Bitch Ray“) vom Label „Vagina Style Records“.

Aus Schleswig-Holstein kommt Felix Eicke, Sänger der Band „Leoniden“. In deren Video zum Lied „New 68“ kommen Carla Reemtsma (Fridays for Future), Mattea Weihe von „Sea Watch“ und die grüne Vize-Präsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags, Aminata Touré – auch sie gehört der Bundesversammlung an –  mit zu Wort – mit reichlich Lob des Polit-Aktivismus.

Mit Schwimmerin Britta Steffen oder Bahnrad-Fahrerin Jana Majunke zählt FC-Bayern-Profi und Nationalspieler Leon Goretzka zu den Sportlern, die  den Bundespräsidenten wählen dürfen. Auch sein Bundestrainer Hansi Flick ist mit von der Partie.

Ein Wiedersehen im Plenarsaal wird es außerdem mit der gerade erst in den Ruhestand verabschiedeten Altkanzlerin geben. Die CDU Mecklenburg-Vorpommern nominierte Angela Merkel als Mitglied der Bundesversammlung. 

Die AfD wartet nicht mit Prominenten auf, sondern entsendet neben ihren Bundestagsabgeordneten in erster Linie Landtagsmitglieder. Vereinzelt sind es auch ihr Nahestehende, wie der Leiter des Instituts für Staatspolitik, Erik Lehnert, der von der Brandenburger Landtagsfraktion, deren Mitarbeiter es ist, nominiert wurde (JF 20/20). 

Mit ihren 152 Delegierten stellt die AfD diesmal deutlich mehr als bei ihrer Premiere im Februar 2017 (35). Da verfügte die Partei nämlich noch nicht über eine Fraktion im Deutschen Bundestag, in den sie erst ein halbes Jahr später einzog. Ihr damaliger Kandidat Albrecht Glaser kam auf 42 Stimmen. Daß die Delegierten der AfD weitgehend aus den eigenen Reihen kommen, ist naheliegend. Der gesellschaftliche Bannstrahl, der die Partei traf, sorgt dafür, daß sich Vertreter aus Wissenschaft, Kultur, Sport oder Wirtschaft von ihr fernhalten, selbst wenn es auch in diesen Kreisen den einen oder anderen geben mag, der mit ihren Inhalten sympathisiert. 

Bereits Anfang Dezember hatte die AfD-Bundestagsfraktion einen Antrag zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht, in dem eine Direktwahl des Bundespräsidenten gefordert wird. Daraus würde sich eine höhere Legitimationswirkung ergeben, ohne daß dies zwangsweise zu einer Kompetenzerweiterung auf seiten des Bundespräsidenten führen müsse. In Umfragen, so die AfD, hätten sich fast 70 Prozent der Befragten für eine Dirktwahl ausgesprochen. Bei nahezu 0 Prozent rangieren dagegen die Chancen auf Verwirklichung dieses Vorhabens.

Gewählt für das höchste Staatsamt Deutschlands ist, wer im ersten (oder zweiten) Wahlgang die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erhält. In einem dritten Wahlgang würde es reichen, die meisten Stimmen auf sich zu vereinigen. Nimmt der Gewählte die Wahl an, wird Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) die Sitzung schließen, die 17. Bundesversammlung ist damit Geschichte.

Mit Überraschungen am 13. Februar rechnet indes keiner. Dabei kam es in der Vergangenheit durchaus vor, daß auch Personen eine Stimme bekamen, die gar nicht zur Wahl standen oder daß jemand gegen seinen Willen als Präsidentschaftsanwärter nominiert wurde. Etwa 1954 der Sozialdemokrat Alfred Weber, der von den Kommunisten vorgeschlagen worden war. Im selben Jahr erhielten zudem je eine Stimme der Chef des Welfenhauses, Herzog Ernst-August von Braunschweig sowie sein Neffe, der Hohenzoller Prinz Louis-Ferdinand von Preußen; genauso der letzte offizielle Staatschef des Deutschen Reiches, Großadmiral Karl Dönitz, der zu diesem Zeitpunkt noch im alliierten Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau seine Haft verbüßte. Sie alle waren nicht nominiert.

Foto: Die 16. Bundesversammlung singt die Nationalhymne (2017): Bei vielen Nominierungen geht es ums demonstrative Zeichensetzen