© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Grüße aus … Krakau
Das gute alte Europa
Stefan Michels

Gemächlich rollt die polnische Winterlandschaft am Abteilfenster vorbei, ein dünner Schneefilm überzieht die sanften Hügel bis zum Horizont. Beim Umsteigen in Warschau ist es mit der Beschaulichkeit vorbei, Wochenendpendler bevölkern die Bahnsteige. Den Weihnachtsmarkt von Krakau muß man sich mit Sitzfleisch erarbeiten, über acht Stunden dauert die Zugfahrt von Berlin. Die Belohnung: eine Rückkehr in das gute alte Europa.

Die Altstadt von Krakau besteht aus einem geschlossenen Ensemble aus Stein- und Ziegelbauten aus einer Zeit, als man noch das schöne Bauen beherrschte. Moderne Schikanearchitektur – Fehlanzeige. Umrandet von einem Grüngürtel, wo einst die Stadtmauern standen, erinnert ihr Umriß an die Form eines Schlüssellochs. Und mittendrin das Herzstück, der mittelalterliche Riesenplatz mit den Weihnachtsständen, die noch am ersten Januarwochenende geöffnet haben. Zwar kleiner als erhofft, weiß der Markt mit Weihnachtsromantik aufzuwarten: Weiße Kutschen parken unter einem prächtig geschmückten Tannenbaum, ruhig und friedlich schieben sich die Besucher durch die Gassen der Stände, von Sperrpollern und Polizeiaufgebot keine Spur. Im Stundentakt beschallt ein Trompeter vom Turm der Marienkirche herab den halben Markt. Die Botschaft ist klar: Hier entschuldigt man sich nicht dafür, wer man ist, hier zelebriert man es.

Meine Sehnsucht nach einem Land wie Polen wächst, noch bevor ich es überhaupt verlassen habe.

Am nächsten Tag hoch auf den Wawel, den Residenzhügel. In der Grabkirche der polnischen Könige, im Sommer völlig überrannt, herrscht angenehme Leere. Nur spanische Touristen scheinen die Stadt und ihre Minustemperaturen für sich entdeckt zu haben. Wie überall im Land gilt in Innenräumen 0G, lediglich die Maske ist Pflicht. Der Glockenturm erlaubt den Ausblick über eine wohltuend hochhausfreie Innenstadt. Am Ende des Rundgangs taucht überraschend die Grabstätte von Staatspräsident Lech Kaczyński und seiner Frau Maria auf, die bei dem bis heute ungeklärten Flugzeugabsturz vor Smolensk 2010 ums Leben kamen.

Am Sonntag klart der trübe Himmel auf, und die sehenswerte Barbakane am Nordtor präsentiert sich in einem würdigen Winterlicht. Später am Tag entdecke ich endlich ein Café mit Atmosphäre, in dem man verweilen kann. Was ihre Kaffeehauskultur anbelangt, könnte die Stadt noch von einem Rückgriff auf ihr österreichisches Erbe profitieren. Auf dem Heimweg mit der Bahn das altbekannte Bild: Eher begegnet man bei der Einreise nach Deutschland den Beatles als dem Bundesgrenzschutz. Grenzkontrolle, gar Grenzschutz, das existiert nur in der Phantasie von Politikern, Journalisten und tagesschauprogrammierten Mitbürgern. Meine Sehnsucht nach einem Land wie Polen wächst, noch bevor ich es überhaupt verlassen habe.