© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Von Drachen und Falken
Krisenjahr 2022: Welche Konflikte werden uns im kommenden Jahr beschäftigen?
Jörg Sobolewski

Die deutsche Presselandschaft ist sich bereits relativ einig: 2022 wird „das nächste außenpolitische Krisenjahr“, schreibt etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung und hat die Schuldigen auch schon ausgemacht: „Führerkult in China“ und „Resowjetisierung in Rußland“. Wohl dem, der bereits das Jahr mit einer klaren Freund-Feind-Bestimmung beginnt, er spart sich so manche Gehirnzelle für später auf. Der linke Politblog „Euractiv“ sieht die EU sogar umgeben von einem „Feuerring“, der Traum von einer Nachbarschaft mit guten Verbündeten bis zum Kaukasus sei schwer beschädigt.

Die „Tagesschau“ sieht immerhin die neue Außenministerin Baerbock für das Jahr der Krisen gut gerüstet, diese versehe ihren Dienst zwar manchmal „angespannt“, aber immer „sicher“, und außerdem sei ihr „die Freude an der neuen Aufgabe“ anzumerken – selbst Putin fühlte sich bei solcher Berichterstattung sicher geschmeichelt. 

Tatsächlich warten einige außenpolitische Krisen auf beherzte Zupacker und vorsichtige Verhandler. Einige dieser Krisen sind hausgemacht, andere schwelen seit Jahrhunderten vor sich hin. Zu letzteren gehört der Bürgerkrieg in Äthiopien. Das älteste Land Afrikas, eine der Wiegen des afrikanischen Christentums und mit 115 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichster Staat Ostafrikas, taumelt immer weiter auf den Abgrund zu. Nachdem die Rebellen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zwischenzeitlich bereits ihren Marsch auf Addis Abeba ankündigen konnten, hat sich die militärische Lage wieder zugunsten der Zentralregierung gedreht. Dennoch bleibt die Situation angespannt, vordergründig geht es um ethnische Konflikte im Vielvölkerstaat, doch hinter den Kulissen spielt auch das Ringen um eines der größten Infrastrukturprojekte der Welt eine Rolle. 

Die EU läuft Gefahr, als Zaungast dem Ringen zuzuschauen

Äthiopien will mit Hilfe des GERD (Großer Äthiopischer Renaissance-Staudamm) den Nil zur Energiegewinnung aufstauen, der Lokalmatador Ägypten fürchtet um seine Wasserzufuhr aus dem Hochland und droht mit Gewalt. 

Ebenfalls zur Kategorie der historischen Erblast kann das Zerwürfnis zwischen den Nato-Partnern Griechenland und Türkei gezählt werden. Auch hier geht es vordergründig „nur“ um ein paar felsige Eilande, doch unter dem Meeresboden im Mittelmeer werden riesige Erdgasvorkommen vermutet. Im Zentrum des Vorkommens liegt die gespaltene Insel Zypern, und während sich die Türkei mit der umstrittenen libyschen Zentralregierung über die Aufteilung des Gasfeldes einig geworden ist, kamen Ägypten und Griechenland ebenfalls überein, die Ansprüche aus Ankara und Tripolis zurückzuweisen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, durch den dramatischen Kursabsturz der Lira unter Druck gesetzt, muß nun dringend Erfolge einfahren.

Ebenfalls um eine Insel wird vor der chinesischen Küste gestritten. Taiwan, Herkunftsort für etwa 62 Prozent der weltweiten Produktion von Halbleitern und Chips, steht im Zentrum des chinesisch-amerikanischen Gegensatzes. Die Volksrepublik China betrachtet die Insel als integralen Bestandteil des Landes, während 38 Prozent der Inselbewohner eine Unabhängigkeit befürworten. Die Vereinigten Staaten sehen Taiwan hingegen vor allem als elementaren Teil einer gegen Peking gerichteten Politik der Eindämmung und Kontrolle. Als ein Glied in der „First Island Chain“ – der ersten Inselkette – soll es gemeinsam mit Japan, den Philippinen und Malaysia die chinesische Expansion in den Pazifik aufhalten. Auch hier stehen beide Großmächte unter Druck. Während die USA in den letzten Jahren global an Boden verloren haben, steigen in der Volksrepublik die Erwartungen an die wachsende eigene Marine. Nach jahrelanger Aufrüstung soll sich der chinesische Drache nun auch zu Wasser bewähren, so die Hoffnung vieler Journalisten und Politiker im selbsternannten Reich der Mitte. Die historische Angst vor einer Invasion von See aus mischt sich hier mit dem chinesischen Trauma des nationalen Zerfalls in kleinere Teilstaaten.

Die verfahrene Lage im Pazifik wirkt sich auch in Europa fort. Denn die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, in der Ukraine „keine roten Linien“ von seinem russischen Amtskollegen zu akzeptieren, erklärt sich auch aus der amerikanischen Sorge, dann die roten Linien eines wesentlich mächtigeren Gegners in Asien akzeptieren zu müssen. Für die Europäer eine schwierige Situation. Einerseits steigt der Druck auf die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten, in dieser Angelegenheit fest im westlichen Lager zu stehen, zum anderen will man aber auch nicht akzeptieren, daß Amerikaner und Russen über die Köpfe der Europäer „hinweg diskutieren“ und man selbst nur „Zaungast“ ist, wie es EU-Chefdiplomat Josep Borrell ausdrückte.

Eine eigenen Position zu bestimmen wird aber für die EU schwerer als erwartet. Das liegt auch an den Amerikanern, die immer wieder mit einzelnen EU-Mitgliedern separate Verhandlungen führen, ohne diese mit Brüssel abzustimmen. Auch die Entsendung von Mark Brzezinski als neuen Botschafter der Vereinigten Staaten in der Republik Polen dürfte die Einbeziehung der Polen in ein EU-Sicherheitssystem unter dem Namen „Strategic Compass“ weiter deutlich erschweren. Brzezinski ist nicht nur der Sohn des berühmten Zbigniew Brzezinski, dem Archetyp des US-amerikanischen „Falken“, sondern mütterlicherseits zudem verwandt mit Edward Beneš – dem Namensgeber der Beneš-Dekrete und ehemaligen Präsidenten der Tschechoslowakei. Sowohl in Moskau als auch in Berlin dürfte seine Ernennung für zumindest verhaltenes Stirnrunzeln sorgen. 

Journalisten, Militärs sowie Außen- und Sicherheitspolitikern, zuvorderst der neuen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, steht somit ein ereignisreiches Jahr bevor. Baerbock bleibt zu wünschen, daß sie auch im Dezember 2022 noch sicher und „mit Freude“ an der dann nicht mehr ganz so neuen Aufgabe ihren Dienst versehen wird.

Foto: Digitaler Falke: Auch im Mittelmeer drohen weitere militärische Auseinandersetzungen