© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Mögliche Interessenkonflikte
Geldpolitik: Die privaten Verhaltensregeln für Mitglieder des EZB-Rats sind unzureichend
Dirk Meyer

Geld und Vertrauen sind untrennbar miteinander verbunden. Dies betrifft nicht nur die Stabilität des Geldwertes, also den Erhalt der Kaufkraft des seit 20 Jahren im Einsatz befindlichen Euros (JF 1/22). Vielmehr gilt dies im besonderen auch für die Integrität der Mitglieder des obersten Leitungsgremiums einer Zentralbank, also beispielsweise des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB-Rat).

Aufgrund der in Artikel 130 und 282 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgeschriebenen Unabhängigkeit der EZB ist dieses Gremium jeglicher demokratischen Steuerung und Kontrolle enthoben. Deshalb sind Ethik-Regeln, sogenannte Compliance-Richtlinien, die Vorgaben zur Transparenz und zum Verhalten von Entscheidungsträgern machen, unverzichtbar – eine Art Ersatzgewissen. Denn nicht ein Fehlverhalten an sich, sondern allein die Möglichkeit hierzu kann das Vertrauen nachhaltig beschädigen.

Kürzlich wurde bekannt, daß vier Mitglieder der amerikanischen Federal Reserve Bank (Fed), darunter ihr Präsident, Jerome Powell, und ihr Vizepräsident, Richard Clarida, fragwürdige Wertpapiergeschäfte im Umfeld wichtiger geldpolitischer Entscheidungen während der Pandemie im Jahr 2020 vorgenommen haben. So hätten möglicherweise Informationsvorsprünge über das zukünftige Handeln der Fed genutzt werden können, indem vor der Veröffentlichung von Sitzungsprotokollen An- und Verkäufe getätigt wurden oder gar kurz zuvor Regierungskontakte stattfanden.

Einige Mitglieder handelten zudem ausgesprochen spekulativ, indem sie Wertpapiere innerhalb eines Jahres an- und wieder verkauften, teilweise nur unter knapper Beachtung der Mindesthaltedauer von 30 Tagen. Dabei hatte Medienberichten zufolge die Ethik-Abteilung der Fed im März 2020 in einer E-Mail führenden Mitarbeitern empfohlen, aufgrund der umfangreichen Hilfsprogramme der Notenbank in den nächsten Monaten von Wertpapiergeschäften abzusehen. Offensichtlich haben sie sie damit aber nicht gegen geltende Ethik-Regeln verstoßen. Dennoch gaben sie Anlaß, die Anlagerichtlinien für Mitglieder des Gouverneursrats und der Präsidenten der regionalen Zentralbanken umfassend zu überarbeiten.

Die Ethik-Regeln der EZB weisen im Vergleich zur Fed erhebliche Defizite auf. So wird bei der EZB auf eine Mindesthaltedauer für Wertpapiere ebenso verzichtet, wie es auch keine Sperrfrist für den Handel im Zeitraum vor und am Sitzungstag des EZB-Rates („Blackout-Periode“) gibt, die das Ausnutzen von Insiderwissen verhindern könnte. Außerdem umfassen die Selbstangaben zu den Vermögensverhältnissen lediglich die Art der Wertpapiere, die zum Ende eines jeden Jahres gehalten werden. Diese sind dem EZB-Ethikausschuß zur Prüfung vorzulegen und werden veröffentlicht.

„Insider“ und Profiteure von kurzfristigen Börsenschwankungen

Demgegenüber werden im Jahresbericht des amerikanischen Office of Government Ethics jährlich stichtagsbezogen alle Vermögensanlagen mit ihrem ungefähren Anlagewert und den daraus zugeflossenen Einkommen (Zinsen, Dividenden) erfaßt. Zusätzlich – und diese Angaben fehlen bei der EZB völlig – werden dort alle im Jahresverlauf vorgenommenen Wertpapierkäufe und -verkäufe wertmäßig und datumsgenau aufgeführt.

Letztere Informationen sind wichtig, um etwaige zeitliche Zusammenhänge der Geschäfte mit geldpolitischen und marktrelevanten Entscheidungen der Zentralbanker nachvollziehen zu können. Nur durch diese verlaufsbezogenen Datumsangaben konnten die mindestens kritikwürdigen Transaktionen bei der Fed erkannt werden. Aufgrund der vergleichsweise geringen Datenanforderungen würden bei der EZB solche Geschäfte hingegen nicht öffentlich auffallen. Da lediglich die Vermögensanlagen, nicht aber die jährlichen Transaktionen erfaßt werden, würde ein kurzfristiger spekulativer An- und Verkauf eines Wertpapieres innerhalb eines Jahres nicht ans Licht kommen.

Entsprechend den nur knappen Angaben, die von EZB-Ratsmitgliedern gefordert werden, wäre es theoretisch denkbar gewesen, daß ein Mitglied kurz vor Beschluß des umfänglichen Pandemie-Notfallankaufprogramms für Anleihen öffentlicher und privater Schuldner (PEPP) am 24. März 2020 Einzelaktien, einen Aktienfonds auf den Dax oder auch italienische Staatsanleihen erworben hätte. Der Dax stand am 18. März mit 8.441 Punkten auf einem Tiefpunkt, die Rendite zehnjähriger italienischer Staatsanleihen stieg mit 1,77 Prozent bereits stark an. Schon ein knappes halbes Jahr später übersprang der Dax die 13.000 Punkte und die italienische Anleiherendite sank zum Jahreswechsel auf 0,65 Prozent – bei entsprechenden Kursgewinnen. Ein Verkauf hätte einen erheblichen Insidergewinn ermöglicht, ohne daß dies in der Selbstauskunft am Jahresende öffentlich geworden wäre.

Um auch nur den Anschein von persönlichen Insidervorteilen und interessengeleiteten geldpolitischen Entscheidungen zu vermeiden, sollte die EZB ihre Verhaltensregeln strikter fassen. So müßten die Vermögenswerte auch dem Betrage nach ausgewiesen werden. Die Angaben zu An- und Verkäufen hätten das Wertpapier mit zugehöriger Wertpapierkennummer, den Wert und das Handelsdatum zu umfassen. Alle Geschäfte sollten der „Stabsstelle für Compliance und Governance“ zur Genehmigung vorgelegt werden. Sperrfristen, wie sie die Bundesbank für einen Zeitraum von sieben Tagen vor und am Sitzungstag des EZB-Rates angibt, wären sinnvoll.

Zudem sollte die EZB die Mindesthaltedauer von sechs Monaten übernehmen. Auch sollte der Ethikausschuß den Ausschluß des Handels in Zeiten von Kapitalmarktanspannungen und in Erwartung von besonderen EZB-Beschlüssen, wie die weiter anstehenden Entscheidungen zur Inflationseindämmung, für eine gewisse Zeitspanne empfehlen können. Die Alternative zu diesen Vorkehrungen könnte in einer durch die EZB vermittelten und beaufsichtigten, treuhänderischen und nicht weisungsgebundenen Vermögensverwaltung mit Offenlegungspflichten bestehen. Die EZB täte gut daran, zumindest dieses offene Einfallstor für Kritik und Vertrauensverlust zu schließen.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.