© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Das schlimme Jahr
Innere Emigration: Vom Überleben im Zermürbungskrieg
Thorsten Hinz

Was Politik und viele Medien seit geraumer Zeit unter Schlagworten wie Klima, Gender, Antirassismus, Vielfalt und zuletzt Corona bieten, sind Großangriffe auf den gesunden Menschenverstand, die sich zum sozialen und psychologischen Zermürbungskrieg verdichtet haben. 2021 war das bisher schlimmste Jahr, und alles spricht dafür, daß es 2022 noch schlimmer kommt. Man kann versuchen, sich mit Petitionen, Leserbriefen, Gerichtsklagen oder durch sein Kreuz auf dem Wahlzettel zur Wehr zu setzen, doch der Effekt steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum Aufwand, und oft bleibt er ganz aus. Am ehesten kann man hoffen, daß das dysfunktionale System am Ende über die eigenen Füße stolpert und an den selbstproduzierten Widersprüchen scheitert. Das ist freilich eher über lang als über kurz zu erwarten. Bis dahin gelten die Rilke-Verse: „Die großen Worte aus den Zeiten, da/ Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns./ Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ 

Wie und wo übersteht man am besten? Literaturkenner denken natürlich an Örtlichkeiten wie die Rautenklause in Ernst Jünger „Marmorklippen“ oder an das Reethaus im ländlichen Mecklenburg aus dem „Sommerstück“ von Christa Wolf. Hier korrespondiert die räumliche Distanz vom öffentlichen Irrsinn mit dem der Absenz im Geiste („Die eigene Welt pflegen“, JF 22/ 21). Konkret bedeutet das zumeist die Flucht aufs Land, in die Natur, was aber nur einer Minderheit möglich ist. 

Die anderen müssen um so konsequenter den Weg nach innen beschreiten. Der vollendete Ausdruck sind die Plastiken, die der Bildhauer Ernst Barlach in den 1930er Jahren geschaffen hat und die Namen tragen wie: „Der Zweifler“, „Wanderer im Wind“, „Der Flötenspieler“ oder „Frierende Alte“. Einige Figuren sind in einen Mantel oder Umhang gehüllt, der ihr Selbst zum Ort des Rückzugs macht. Sie fallen deshalb keineswegs aus der Welt. Im Gegenteil, konzentriert und präzise registrieren sie, was darin vorgeht und ziehen ihre Konsequenz daraus. Sie meiden die direkte Konfrontation und behaupten sich durch Kontemplation und die stille Präsenz ihres Andersseins. Die Stärke, die aus ihnen strahlt, wirkt eindringlicher als die einer geballten Faust. 

Das eindringlichste, geradezu idealtypische Werk ist der knapp lebensgroße „Lesende Klosterschüler“ aus dem Jahr 1930. Statt des schützenden Mantels trägt er nur einen schlichten Kittel, unter dem die nackten Füße hervorschauen. Seine äußere Verletzlichkeit verstärkt den Eindruck innerer Kraft. Seine Gesichtszüge sind fein, die Schultern schmal. Auf seinen Knien liegt ein aufgeschlagenes Buch, in das er sich vertieft. 

In dem 1957 veröffentlichten Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ hat Alfred Andersch sich intensiv mit der Holzfigur auseinandergesetzt. Die Handlung spielt im Jahr 1937. Gregor, ein junger Kommunist, der im Auftrag der Partei in einer mecklenburgischen Hafenstadt den Widerstand gegen das NS-Regime organisieren soll, fühlt sich beim Anblick der Figur zunächst an seinen Lehrgang an der Lenin-Akademie erinnert, an „das Gesicht unserer Jugend, der Jugend, die auserwählt ist, die Texte zu lesen, die Texte, auf die es ankommt“. Doch bei näherer Betrachtung begreift er, daß dieser Leser ganz anders ist.

Formal mag seine Lektüre dem scholastischen Schema der Auslegung heiliger Texte gehorchen: Auf das Wahrnehmen des geschriebenen Buchstabens (littera) folgt das Erfassen der Bedeutung (sensus) und das Erschließen des Sinngehalts (sententia). Doch statt die kanonisierte Interpretation seines Ordens zu übernehmen, wagt Barlachs Figur eine eigene Textauslegung. Das aufgeschlagene Buch bildet einen stumpfen, beinahe gestreckten Winkel und öffnet sich der Gegenwart.

Der Text vertieft das Weltverständnis des Lesers; die Erfahrungen, welche ihm die erlebte Welt mitteilt, erweitert sein Textverständnis. Das Lesen wird zur transzendenten Erfahrung, die sowohl über die dogmatische Hermeneutik wie über die totale Immanenz der Gegenwart hinausführt. Die längst gehegte Ahnung, daß die KPD mit ihrer ideologischen Verbohrtheit den Nationalsozialisten mehr genutzt als geschadet hat, ist ihm durch den „Klosterschüler“ zur Gewißheit geworden. „Sowie man die Partei im Stich läßt, gibt es wieder Romantik, dachte Gregor.“ Statt den selbstmörderischen und völlig nutzlosen Parteiauftrag auszuführen, entschließt er sich, die gefährdete Skulptur, die sich in einer Kirche befindet und von der Beschlagnahme bedroht ist, ins Ausland zu retten. So erfährt er einen Moment existentieller Freiheit.

So gut, so schön. Aber wie weit können solche Momente den Einzelnen über einen endlosen, quälenden Alltag hinaustragen? Wie lange widersteht die wiedergefundene Romantik dem Medien-Geheule und den immer neuen Disziplinarmaßnahmen? Das „Sommerstück“ wird im elegischen Vergangenheitsmodus erzählt, das Reethaus ist längst abgebrannt. Die Bluthunde des Oberförsters erreichen auch die Marmorklippen, und die Rautenklause mit den kostbaren Büchern, Pergamenten und Herbarien geht in Flammen auf. Und Barlach war außerstande, den inneren Frieden zu leben, den sein „Klosterschüler“ ausstrahlt. 

Dabei erschienen seine ganz persönlichen Umstände für ein inneres Exil vergleichsweise günstig. Er bewohnte ein geräumiges Atelierhaus in der mecklenburgischen Landschaft am Inselsee bei Güstrow, fernab von den Zentren der NS-Bewegung. Doch der Druck auf ihn war immens: Aufträge wurden storniert, Werke aus öffentlichen Sammlungen entfernt, Denkmäler abgebrochen, private Ankäufe blockiert. 1936 schuf er die Plastik „Das schlimme Jahr 1937“: Es handelt sich um eine aufrecht stehende, geradezu erstarrt wirkende Frauenfigur, die bis auf das Gesicht völlig verhüllt ist. Auffällig ist, daß selbst die Hände unter dem Umschlagtuch verborgen sind, was besagt, daß sie zu keiner nach außen gekehrten Aktivität mehr fähig ist. In einem Brief von Ende Dezember 1936 nannte Barlach das abgelaufene Jahr „mörderisch“, „einzig dafür gelobt, daß es mit ihm aus ist“. Aber es hinterlasse „Reste“, die ihm das Jahr „1937 sehr verdächtig“ machten. 

Die Ahnung sollte sich erfüllen. 1937 wurde er mit einem Ausstellungsverbot belegt, sein „Schwebender Engel“ wurde aus dem Güstrower Dom entfernt, ihm wurde ein Arbeitsverbot angedroht. Günter Maschke nennt im Nachwort zu Carl Schmitts „Leviathan“ 1937 das „Jahr einer für Sensibelere unheimlichen Windstille“. Das Regime hatte seine Macht nach innen und außen konsolidiert, die Partei den Staat samt Justiz und Polizei voll im Griff, und „die Hoffnung der ‘konservativen Kollaborateure’ (Joachim Fest) auf eine Mäßigung und Selbstreform“ war verflogen, 

In diesem Jahr notierte Barlach, daß er „im Vaterland eine Art Emigrantendasein führe“ und „somit eine Ausgestoßenheit erfahre, die der Preisgabe an die Vernichtung gleichkommt“. Seine „bisherigen Lebensvoraussetzungen“ seien ihm genommen, er befinde sich im Zustand „der langsamen Erdrosselung“, die sich von der „echten Garottierung“ nur durch ihre Verschleierung und Bemäntelung unterscheide. Dieses Verfahren würde „nur gewählt zur Bequemlichkeit des Vollziehers, nicht zur Erleichterung des Verurteilten“.

Die Garrotte bildet – in mehrfacher Weise variiert – das Leitmotiv der Erzählung „Das schlimme Jahr“, die der Schriftsteller Franz Fühmann 1963 über Barlachs Schicksal verfaßte. Sie spielt am 24. August 1937, als der Künstler von der Entfernung des Engels aus dem Dom erfährt, und schildert in hochartifizieller Sprache seine Ohnmacht und Fremdheit in einer kafkaesken Welt: „Räuber und Mörder durften sich verteidigen, wenn sie angeklagt waren, nicht so ein Barlach, der war vogelfrei – außerdem hätte er ja nicht einmal wissen können, gegen wen er Klage hätte erheben sollen: nie würde er erfahren, wer den Befehl zum Abbruch des Engels gegeben hatte …“ Barlach erlag dem Druck. Er starb 1938 an einem Herzinfarkt.

Fühmann hatte in der Erzählung – der er später den Titel „Barlach in Güstrow“ gab – das eigene Schicksal vorweggenommen. Seine Zweifel am real-existierenden Sozialismus der DDR wurden ab den frühen 1960er Jahren immer stärker und schließlich übermächtig. Er zog sich in eine Einsiedlerhütte im märkischen Wald südlich von Berlin zurück, versuchte aber weiterhin, mit zahllosen Briefen, Eingaben, Interventionen an den Schriftstellerverband, an die SED- und Staatsführung die Kulturpolitik im Sinne eines freiheitlich und demokratisch verstandenen Sozialismus zu beeinflussen, drangsalierte Kollegen zu schützen und junge Talente zu fördern. Die Stasi eröffnete gegen ihn den aufwendigen Operativen Vorgang „Filou“. Vom Krebs zerfressen, starb Fühmann 1984, erst 62jährig. In einem Testament stehen die Sätze „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein. In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“ 

Der Rückzug in die passive Kontemplation einerseits, das Pochen auf Recht und Gesetz sowie auf die verkündeten Werte und Ideale andererseits, mit dem man die übergriffige Macht punktuell in Verlegenheit bringen kann, sind wichtig und richtig, sie reichen aber für den persönlichen Selbsterhalt nicht aus.

Weitere Handreichungen dazu finden sich in Helmut Lethens 1994 veröffentlichtem Buch „Verhaltenslehren der Kälte“, in dem der Literaturwissenschaftler die Reaktionen deutscher Künstler und Intellektueller von weit links bis weit rechts auf die Umwälzungen nach 1918 untersucht. Neben der Kriegsniederlage, der Revolution und den folgenden innenpolitischen Erschütterungen war es auch die moderne Technik, die die Lebenswelt neu ordnete.

Bertolt Brecht, Ernst Jünger, den Vertretern der Neuen Sachlichkeit war das Bemühen um die Abkühlung der Emotionen und die Entmoralisierung der Wahrnehmung gemeinsam. Nur so konnten sie die inneren Spannungen auf einem erträglichen Niveau halten. Ständig sondierten sie die Lage, spähten nach Veränderungen, nach Möglichkeiten und Gefahren. In diesem Sinne muß auch die innere Emigration nicht als passiver, sondern als ein höchst aktiver Vorgang verstanden werden; Lethen faßt die Verhaltensweisen zusammen: „Das Verbot der Klage, die Disziplinierung der Affekte, die Kunstgriffe der Manipulation, die List der Anpassung, die Panzerung des Ich, die Verfahren des physiognomischen Urteils und die Reflexion des Verhaltens in einem Parallelogramm der Kräfte.“ Heute muß notwendigerweise hinzugefügt werden: Zynismus, Mimikry sowie ein wohltemperierter Ekel zur emotionalen Kompensation der unvermeidlichen Frustrationen. 

Es genügt nicht, sich gegen die Außenwelt mit Verachtung zu verpanzern, wenn keine innere Aufrüstung damit einhergeht. „Begreife den Machthaber, der nach Dir greift; setze seinen Griffen keine Gegengriffe gleichen Niveaus entgegen; erprobe lieber an seiner Macht Deine Kraft zu Begriffen. Auch nach Deinen Begriffen wird er greifen. Doch laß’ ihn nur greifen. Er wird sich die Pfoten schneiden“, zitiert Lethen aus Carl Schmitts „Glossarium“. Wo allerdings die „Haltung“ sich verselbständigt und zum „Grundwert“ erstarrt, wird alle Lebensenergie dafür verbraucht, um stählern und unverwundbar auszusehen; wenn es dann zum Schwur kommt, ist keine Kraft mehr vorhanden. Lethen empfiehlt mit dem spanischen Jesuiten Baltasar Gracian die „sichere Mitte der besonnenen Tugend“, die „in einer diskreten Verwegenheit (besteht), der das Glück häufig zu Hilfe kommt“.

Wie ein Echo auf die Rilke-Verse klingen die eindringlichen Zeilen von Ingeborg Bachmann: „Es kommen härtere Tage./ Die auf Widerruf gestundete Zeit/ wird sichtbar am Horizont.“ Günstiger läßt sich das Jahr 2022 nicht prognostizieren.

 www.ernst-barlach.de

Foto: Ernst Barlachs Skulptur „Frierende Alte“ (1937): Exponate des Künstlers sind demnächst in der Ausstellung „Ernst Barlach und Käthe Kollwitz. Über die Grenzen der Existenz“ im Kunsthaus Apolda (16. Januar bis 18. April 2022) zu sehen. In einer Museumsankündigung heißt es dazu, Barlachs Menschenbilder „verkörpern symbolhaft die Grundzustände menschlichen Seins“ und seien als „Ausdruck geistiger Orientierung auf eine andere, eine bessere Welt“ zu lesen (www.kunsthausapolda.de).