© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Lügen als Dioxin des menschlichen Gartens
Sachbuch: Der Gründer des Augsburger Gebetshauses Johannes Hartl legt in „Eden Culture“ die toxischen Areale der postmodernen Gesellschaft offen
Dietmar Mehrens

Eine Straße dient dazu, auf ihr gehen und fahren zu können. Einen Sinn bekommt sie erst durch das Ziel, das man auf ihr erreichen kann. Sinnvoll ist auch ein menschliches Leben erst dann, „wenn es auf einen Wert ausgerichtet ist – einen Wert, der größer ist als der bloße Zweck“ des Daseinserhalts und der Daseinsfürsorge. Die Straßen-Metapher ist die anschaulichste unter einer ganzen Reihe von Bildern und Vergleichen, mit denen Johannes Hartl, katholischer Seelsorger, Prediger und Philosoph (JF 14/18), sein Ansinnen illustriert, einer neuen „Ökologie des Herzens“ den Weg zu bereiten, um einer Gesellschaft, die in Anbetracht der Bedrohungen durch mediale Massensteuerung, digitale Dissoziation, Transhumanismus und Klimawandel zusehends zum seelischen Sanierungsfall wird, einen Rettungsring zuzuwerfen. 

In Dystopien wie „Dark“ – eine Szene aus der Netflix-Serie dient dem Buch als anschaulicher Rahmen – sieht Hartl begründete Zukunftsängste gespiegelt. Er selbst ist aber Optimist und findet in der dem Menschen innewohnenden „Sehnsucht nach Eden“ den entscheidenden Wegweiser für alle Verwirrten und Verirrten dieses Zeitalters. Mit dem von ihm zitierten Bindungsforscher Abraham Maslow sowie den großen Schriftstellern des russischen Realismus Tolstoi und Dostojewski ist der Gründer des Augsburger Gebetshauses davon überzeugt, daß der Mensch „ohne das Transzendente (...) gewalttätig, nihilistisch, hoffnungslos, apathisch“ werde. „Wir brauchen etwas Größeres als uns selbst, um Ehrfurcht zu empfinden.“

Selbstoptimierungswahn und Gewinnstreben

Diese These verbindet er mit der schonungslosen Diagnose einer kranken Gesellschaft, in der Selbstoptimierungswahn und Gewinnstreben Solidarität und soziale Nähe ersetzt haben. Etwas sei „fundamental nicht in Ordnung“, schreibt der 42jährige einleitend unter der Überschrift „Die Seele weint“ und verweist auf den Psychoreport der DAK für das Jahr 2020 mit dem alarmierenden Befund, daß sich seit 1997 die Zahl der Krankheitstage deutscher Arbeitnehmer aufgrund von Depressionserkrankungen und psychischen Defekten verdreifacht hat, sowie auf ein „Gesundheitsmonitoring“ des RKI, ebenfalls von 2020. Dessen Daten sind sogar noch beunruhigender: Jedes dritte Mädchen und jeder fünfte Junge leidet an psychosomatischen Beschwerden.

Auf der Suche nach Gründen für diese Daseinskrisen beläßt es der Verfasser nicht bei Oberflächlichkeiten, sondern nimmt seine profunden Kenntnisse aus Psychologie, Philosophie und Theologie zu Hilfe, um seinen Lesern ein Breitband-Therapeutikum zu verschreiben: Verbundenheit, Sinn und Schönheit sind Hartl zufolge „die Nährstoffe, die den Garten des Menschlichen vital halten“, und zugleich die Überschriften seiner drei Hauptkapitel.

Für Theologen ist das, wovon Hartl so bilderreich spricht, Grundlagenwissen: Der Sündenfall, das Herausfallen aus der vertrauensvollen Verbindung mit dem Schöpfer, hat destruktive Mächte entfesselt, denen der Mensch sich jenseits von Eden mit denselben falschen Mitteln entgegenstellt, die bereits zur Vertreibung aus dem Paradies geführt haben: Selbstbezogenheit, Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung. Die Lüge, auch das Sich-selbst-Belügen, nennt Hartl „das Dioxin des menschlichen Gartens“. Wer ihm gesetzte Grenzen überschreitet, zerstört Verbundenheit und sät Gewalt, ist er überzeugt. Es wachse „im Menschen die Gier nach immer mehr“. 

Werden tieferer Sinn und letzte Wahrheit negiert, das ist der Kerngedanke des zweiten großen Hauptkapitels, kann es auch kein Gesetz mehr geben, das eine letzte Autorität über meine Werte und Überzeugungen ausübt. Ein Aspekt übrigens auch in der aktuellen Impfzwang-Debatte. Wer in der Welt nur Strukturen der Macht sehe, meint Hartl, könne auch nur von einer Machtstruktur in eine neue „befreien“ – eine Absage an alle marxistisch und darwinistisch inspirierten Weltdeutungsmuster. „Eine kleine Geschichte des modernen Menschen“ ist ein etwa zehnseitiger Exkurs überschrieben, der zu den ergiebigsten Abschnitten des Buches gehört. In dem konzisen Abriß schildert der Autor, ausgehend von Aristoteles, Platon und Thomas von Aquin, endend bei den Neomarxisten Foucault und Lukácz mit Zwischenstationen bei Hegel, Schopenhauer und Freud, wie das Dogma von der Eigengesetzlichkeit des Existierenden in das Denken des Menschen über sich selbst einzog.  

Dem von ihm diagnostizierten menschlichen Urproblem der Entgrenzung spürt er in seinen vielerlei Erscheinungsformen nach und stützt sich dabei auf eine fast erdrückende Fülle gesichteter Quellen. Zu den von ihm mit Vorliebe zitierten Philosophen der Gegenwart gehören der Kanadier Charles Taylor („Quellen des Selbst“, dt. 1996) und der Brite Roger Scruton („On Human Nature“, 2017).

Auf einen missionarischen Appell verzichtet der Autor

Kein Wunder also, wenn JF-Lesern manches von dem, was Hartl vorträgt, vertraut vorkommt, zum Beispiel die an Scruton angelehnte Kritik an der „Pornographisierung der Gesellschaft“, die Menschen in Dinge verwandle und Sex in eine Ware (JF 42/21). Die Verbindungslinien zwischen Vertreibung aus dem Garten Eden, Turmbau zu Babel und Ausgießung des Heiligen Geistes, die der Autor im Schlußkapitel „Eden Culture“ nachzeichnet, waren bereits Gegenstand eines Essays in der vorigen Pfingstausgabe (JF 21/21), und an die Grievance Studies Affair, über die er mit kontrollierter Süffisanz im Hauptkapitel „Sinn“ referiert, um die Aporien zu entlarven, in die die modernen Denkschulen des Konstruktivismus bzw. Dekonstruktivismus münden, wird sich mancher Leser ebenfalls mit Schmunzeln erinnern (der US-Forscher Peter Boghossian hatte mit erfundenen Studien zum Beispiel über eine Vergewaltigungskultur bei Hunden, maskuline Stereotype in der Astronomie und anderen Mumpitz, einiges gar garniert mit Hitler-Zitaten, bei soziologischen Fachzeitschriften offene Türen eingerannt und damit das linke universitäre Milieu kolossal blamiert, vgl. JF 8/19). 

Während man dem Niederbayern bei den Themenkomplexen Verbundenheit und Sinn mühelos zu folgen vermag, wird es beim Thema Schönheit (Kapitel 3) spürbar spekulativer. „Schönheit ist objektiv“, behauptet Hartl und fordert deren „Renaissance“. Das entspricht ganz der Zielsetzung der von ihm veranstalteten MEHR-Konferenzen, wo es um ein Mehr an Glauben, Spiritualität und Schönheit geht. Der begnadete Prediger stellt sich jedoch selbst ein Bein, wenn er als Beispiel für Schönheit Thomas Manns große Romane anführt und parallel dazu die sprachliche Harmonie seines eigenen Textes durch Dissonanzkörper wie „designen“, „Event“ oder „Beautyindustrie“ so brutal zerstört, daß Sprachästheten das kalte Grausen packt. 

Auf einen missionarischen Appell verzichtet „Gottes Partylöwe“ (Klaus Kelle) bewußt. Er möchte für Suchende schreiben, die nicht christlich sozialisiert sind und lieber ertrinken würden, als einen Rettungsring mit der Aufschrift „Bekehrung“ anzunehmen. Er weiß: Dem säkular erzogenen Menschen der Postmoderne muß man anders kommen. Vielleicht etwas zu verhalten fällt daher sein Aufruf am Ende des Buches aus, die alten Wege zu verlassen und nach Eden aufzubrechen, um „wieder in Kontakt zu kommen mit dem Vater, bei dem wir einfach sein dürfen“.

„Eden Culture“ ist eine anspruchsvolle Lektüre. Angesichts des beträchtlichen verarbeiteten Materials nicht erstaunlich. In vielem ähnelt das Buch Markus Spiekers „Übermorgenland“. Auch darin lockerten historische Anekdoten und eigene Erlebnisse die Informationsflut in willkommener Weise auf. Als rundum gelungen darf man den Versuch des Autors werten, seine theologischen Einsichten in die Sprache der „Fridays for Future“-Generation zu übersetzen: In seinem Schlußbild eines „Eden 2.0“, einer vitalen Gartenstadt voller Lebensbäume, verbindet sich die Vision der Klimaaktivisten von grünen, autofreien Städten kongenial mit der des Sehers Johannes aus den letzten Kapiteln der biblischen Apokalypse.

Johannes Hartl: Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen, Herder Verlag, Freiburg 2021, gebunden, 304 Seiten, 24 Euro