© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Der Postkolonialismus ist für das Bestehende nützlich
Heftige Kritik von links an der Gleichsetzung von Kolonialverbrechen und Holocaust
Oliver Busch

Um die 1838 erstmals erschienenen, vom Junghegelianer Arnold Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbücher versammelte sich im vormärzlichen Deutschland die gegen „Thron und Altar“ opponierende Intelligenz. Aber aus der großen Schar der damals sehr prominenten Beiträger das politisch-weltanschauliche Spektrum reichte vom Liberalen August Heinrich von Fallersleben bis zum Anarchisten Michail Bakunin, sind heute höchstens noch Karl Marx und Friedrich Engels bekannte Namen. Mit Marx führte Ruge sein von der preußischen Zensur schließlich außer Landes gedrängtes Unternehmen 1843 denn auch zu Ende: in Paris, mit einer einzigen Nummer der Deutsch-Französischen Jahrbücher.  

Kolonialverbrechen seien kein gleichrangiger Zivilisationsbruch

Den Schwerpunkt des Periodikums, das aus Tarngründen zwar als Jahrbuch firmierte, aber eher einer Flugblatt-Zeitung glich, bildete die radikale Religionskritik, die „die Vernichtung des christlichen Glaubens für die eigentliche Konsequenz des Hegelschen Denkens hielt“ (Hermann Lübbe). Diese, sich natürlich nicht mehr gegen die heute politisch marginalisierte christliche Religion richtende, „rücksichtslose Kritik des Bestehenden“ wollen die neuen Hallischen Jahrbücher fortsetzen. Im ersten, den „Untiefen des Postkolonialismus“ gewidmeten Jahrgang präsentiert sich eine denkende Linke, die es tatsächlich ernst meint mit dieser an Marx wie an Adorno geschulten „Rücksichtslosigkeit“, weil sie das sich gewöhnlich als systemkritisch und „links“ gerierende Ideologiekombinat „Identität, Postkolonialismus, Antirassismus, Kritisches Weißsein“ als Teil des Bestehenden, das das „Falsche“ ist, attackiert. Und damit, wie angekündigt, einen begrüßenswerten „kleinen Beitrag zur Stärkung dessen leistet, was längst im Rückzug begriffen ist: historisches Bewußtsein, Unterscheidungsfähigkeit und politische Urteilskraft“. 

Im Mittelpunkt des vom Ramer Institute, einer Berliner Dependance des American Jewish Commitee, unterstützten stattlichen Bandes, steht die Auseinandersetzung mit der von postkolonialen Theoretikern verfochtenen These, der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden sei nur eines von vielen Kapiteln in den bluttriefenden Annalen des Rassismus, das sich weder quantitativ noch qualitativ von anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterscheide. Insbesondere nicht von denen, die weiße Europäer und Nordamerikaner bei der Kolonisierung des globalen Südens begingen.

Als Virtuose einer solchen Universalisierung des Holocaust, mit dem sich hier mehrere Beiträger auseinandersetzen, ist der kamerunische Historiker Achille Mbembe international zu einigem Ruhm gelangt. Für ihn sind Judenverfolgung und Judenmord nur staatlich organisierte Spielarten eines über Zeiten und Räume hinweg wirksamen Rassismus, wie er etwa auch für das Apartheid-Regime in Südafrika oder die „Besatzungspolitik“ Israels gegenüber den Palästinensern kennzeichnend sei. Im seinem Vorwort zum Sammelband „Apartheid Israel“ (2015) nennt er das Westjordanland und Gaza daher konsequent ein „Freiluftgefängnis“, wo schlimmere Zustände herrschten als einst in den südafrikanischen Bantustans. Darin übereinstimmend mit einer anderen Großschwurblerin, der Genderpäpstin Judith Butler, die Israels „konzentrierenden Kolonialismus“ als Fortführung dessen deutet, was in deutschen Konzentrationslagern geschah.   

Soviel Geschichtsvergessenheit, die den Holocaust nach Kräften relativiert und suggeriert, es handle sich nur um einen „Genozid unter anderen“, der aber leider so dominant sei, daß er die allfällige Erinnerung an die Opfer von Kolonialismus und Sklaverei blockiere, ist nur schwer beizukommen. Der Herausgeber, der Historiker Jan Gerber (Halle), und seine Mitstreiter müssen zwecks „Dekonstruktion“ der wirren, französischen „Meisterdenkern“ wie Michel Foucault entlehnten Thesen Mbembes daher die ihrerseits nicht unumstrittene, vom Althistoriker Egon Flaig als „Tanz ums goldene Kalb ‘Unerklärbarkeit’“ geschmähte „Black Box“-Theorie des israelischen Historikers Dan Diner bemühen. 

Danach unterscheide sich der „Zivilisationsbruch“ des Judenmordes von sämtlichen Kolonialverbrechen und ähnlich monströsen Ungeheuerlichkeiten, wie sie Lenins, Stalins oder Maos Schuldkonto belasten, durch seine „vollendete Sinnlosigkeit“. Für Terror und Massenmord dieser Kategorie gäbe es regelmäßig rationale Gründe, im Kolonialraum die Durchsetzung wirtschaftlicher Ausbeutung von Mensch und Natur, in totalitären Regimen die Herrschaftssicherung. In Auschwitz befinde sich hingegen jeder Historiker im „Niemandsland des Verstehens“, weil hier eine bis dahin absolut geltende Schranke durchbrochen worden sei: die Schranke der Selbsterhaltung – der Täter! Habe doch der Vernichtungsdrang der Deutschen ihren Selbsterhaltungstrieb außer Kraft gesetzt.  

Deutsche nahmen ihren eigenen Untergang mehr als nur billigend in Kauf, weil die Vernichtung der Juden gegenüber dem militärischen Erfolg „absolute Priorität“ gehabt habe. Obwohl jedermann einsah, daß die Züge, mit denen die Juden aus allen Winkeln Europas in die Vernichtungslager fuhren, der Wehrmacht für ihren Nachschub fehlten. So seien die Deutschen mit dem Holocaust zu „Agenten der eigenen Vernichtung“ geworden, ein anthropologisch wie welthistorisch singuläres Phänomen. Das sich, der Vergleich drängt sich auf, rationaler Erklärung genauso entzieht wie der spätestens im „Willkommenssommer“ 2015 offenbar gewordene, sich aus denselben, wohl „typisch deutschen“ Urgründen des Irrationalismus speisende Wille zur „Selbstabschaffung“ (Thilo Sarrazin) mittels enthemmter, keiner politischen und ökonomischen Vernunft mehr gehorchender Förderung von Masseneinwanderung.

Sinnstiftende Nützlichkeit für die „Große Transformation“

Es ist eine Stärke dieser Auslotung postkolonialer Untiefen, daß sie, wenn auch nicht in wünschenswerter Präzision, in den Kontext der Globalisierungskritik gerückt werden. Für die Planer der „Großen Transformation“ und des „Großen Austausches“ liegt die sinnstiftende Nützlichkeit von Mbembes Phantastereien über die Notwendigkeit, alle „rassistischen Hierarchien und Trennungen der Menschen“ aufzuheben, damit der „Traum einer universellen, aus Mischlingen bestehenden Polis“ wahr werde, auf der flachen Hand. Es kämen allerdings noch andere Profiteure als die in Davos oder New York in Betracht, wie Gerber andeutet. Die Postcolonial Studies seien auch ein „ideologisches Begleitinstrument des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt“, die als Waffe gegen den Westen der Selbstvergewisserung asiatischer Aufsteiger-Nationen dienten und den Schwarzafrikanern das „sozialpsychologische Anschmiegen“ an diese „Mächte von morgen“ erleichterten.

Hans Atom, Dan Diner, Jan Gerber u.a. (Hrgs.): Die Untiefen des Postkolonialismus. Hallische Jahrbücher Bd. 1. Edition Tiamat, Berlin 2021, gebunden, 400 Seiten, 24 Euro