© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/22 / 07. Januar 2022

Amoklauf der Sensibilität
Svenja Flaßpöhler warnt vor einem „Kippunkt“ und hat doch Angst vor der eigenen Courage
Ludwig Witzani

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler gehört zu den anregendsten Sachbuchautoren im deutschen Sprachraum. Ihr Geschäftsmodell ist die Anwendung philosophischer Betrachtungsweisen und Einsichten auf gesellschaftliche Fragestellungen, was beileibe nicht abwertend gemeint ist, weil die Einsichten der Philosophie einem großen Schatz gleichen, der viel zu wenig geplündert wird. Mit diesem Hintergrund hat Flaßpöhler über Elternschaft und Leistungsgesellschaft, über den Tod und das Verzeihen lesenswerte Bücher verfaßt, die mitunter sogar die Grenzen des erlauben Meinungskorridors abklopften. In ihrem Buch „Die potente Frau“ ging sie so weit, auf die Pauschalisierungen der Me-Too-Bewegung hinzuweisen, die den Frauen eine neue Opfer Rolle zuweisen würde. Vor einigen Wochenließ sie als Talkshowgast bei Hart aber fair Vorbehalte gegenüber der Corona-Impfpflicht erkennen und mahnte zu differenziertem Umgang mit Kritikern an den Pandemiemaßnahmen. 

In ihrem aktuellen Buch „über moderne Empfindsamkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ argumentiert sie, wenngleich etwas sensibler, auf ähnlich vermintem Gelände. Gleich zu Beginn unterscheidet Svenja Flaßpöhler zwei Arten der Empfindsamkeit: eine „aktive“ Emotion, die mit Empathie und Mitgefühl identisch ist, und eine eher „passive“, negative Empfindsamkeit, unter der sie übertriebene Reizbarkeit versteht, die leicht in Aggressivität umschlagen kann. Möglicherweise, so die Autorin, befinden wir uns gegenwärtig an einem kritischen Punkt, an dem eine zu weit getriebene Sensibilität ins Negative „kippt“ und die Grenzen des Zumutbaren neu verhandelt werden müssen.  

Diese Neuverhandlung des Zumutbaren vollzieht sich in dem vorliegenden Buch als eine brillant geschriebene Rekonstruktion der Geschichte der Empfindsamkeit, die den Kauf des ganzen Buches lohnt. Gleichsam den Nullpunkt der Sensibilität repräsentiert „Johann“, ein fleischfressender, gewalttätiger, unreinlicher Vergewaltiger, mit einem Wort: ein Ritter des 13. Jahrhunderts. Ihm steht sieben Jahrhunderte später der durchgegenderte, hyperempfindsame vegane und feministisch enteierte „Jan“ gegenüber, der umweltbewußt lebt und aller Leidenschaft entsagt hat. Der siebenhundert Jahre lange Weg von Johann zu Jan ist verschlungen und voller überraschender Wendungen, die hier nur angedeutet werden können. Die Tischsitten und Briefromane des 17. und 18. Jahrhunderts, die philosophischen Systeme von Hume,  Rousseau und de Sade haben ebenso ihren Auftritt wie der „linguistic turn“ der Kulturwissenschaften, der Poststrukturalismus und die Apotheose des Opfers, der sein eigenes Leid als privilegiertes Erkenntnisorgan benutzt. Immer vom Rückfall in die Barbarei bedroht, entwickelte sich schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg ein finaler „Sensibilisierungsschub“, der endlich die Minderheiten emanzipierte, aber zugleich der Gesellschaft jede Menge Verhaltensvorgaben und Sprachverbote auferlegte. Ein Meilenstein dieser Entwicklung war die Neudefinition des Trauma-Begriffs durch das amerikanische DSM (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders), nach der das Vorliegen eines Traumas allein durch den Traumatisierten festgestellt werden kann. 

Der letzte Rest an Ungleichheit wird grotesk überzeichnet

Obwohl Flaßpöhler nicht müde wird, der Sensibilität ein Loblied zu singen, geht ihr das zu weit. Die Selbstattestierung des Traumas durch hypersensibilisierte „Opfer“ erlegt allein der Umwelt die Verpflichtung auf, das vermeintliche Opfer von jeder Beeinträchtigung fernzuhalten. „Trigger-Warnungen“ und „Safe Spaces“ lassen grüßen. Demgegenüber spielt die „Resilienz“, die Widerstandsfähigkeit des Opfers keine Rolle mehr. Die Autorin plädiert stattdessen für eine Rehabilitation der Resilienz, denn „die Resilienz ist nicht die Feindin, sondern die Schwester der Sensibilität“, heißt es am Ende des Buches. Nur wer beide in sich vereinigt, kann mit Zumutungen umgehen und ist zu einem Austausch mit anderen in der Lage. 

Leider kann von einer Zähmung der hypertrophierten Sensibilität durch eine moderate Resilienz nicht die Rede sein. Die Situation ähnelt vielmehr einem Zustand, den die Autorin als „Tocqueville-Paradoxon“ beschreibt. Der französische Soziologe Alexis de Tocqueville hatte anhand seiner Betrachtungen zur sozialen Gleichheit in den Vereinigten Staaten festgestellt, daß die Sensibilität für Ungleichheit in dem Maße zunimmt, in dem sie verschwindet, so daß –  obwohl die Gesellschaft bereits extrem gleich sei – das letzte Quentchen Ungleichheit als katastrophale Ungerechtigkeit empfunden wird. Die Anwendung dieses Gedankens auf die Entwicklung der Sensibilität ist originell, weil sie dem gesamten Diversitäts-, Rassismus- und Antisemitismushype die Grundlage entzieht. Denn auch wenn es noch immer Homophobie, Antisemitismus, Rassismus oder Frauenverachtung gibt, kann niemand bestreiten, daß die diesbezüglichen Zustände in den westlichen Ländern unendlich viel positiver sind als früher. Trotzdem sind die Zeitungen voll von Klagen über Homophobie, Rassismus Antisemitismus und Frauenunterdrückung. Der letzte Rest an Ungleichheit bzw. Ungerechtigkeit wird kurz vor seinem völligen Verschwinden grotesk überzeichnet und skandalisiert. 

Mit diesem finalen Gedankengang, den die Autorin am Ende ihres Buches nur sehr vorsichtig andeutet, liegt Frau Flaßpöhler goldrichtig, segelt aber gefährlich hart am Mahlstrom der Politischen Korrektheit. Wie aktuell ihre Betrachtungen sind,  zeigt etwa der Miniaturskandal um die afrodeutsche Bloggerin Jasmina Kuhnke, die den Besuch der Frankfurter Buchmesse boykottierte, weil sie sich von der Anwesenheit eines rechten Kleinverlages an Leib und Leben bedroht fühlte. Ob die Bedrohung real war, spielte keine Rolle, das selbstattestierte Gefühl der Bedrohung reichte. Obwohl Frau Kuhnke in sehr geschickter Manier ihr Opfernarrativ inklusive unbewiesener Unterstellungen einsetzte, um maximale Aufmerksamkeit (und Werbung für ihr Buch) zu erhalten, war Frau Flaßpöhler bei ihren diversen Auftritten auf der Buchmesse nicht bereit, diesen Vorgang als Beispiel für hypersensible und interessengeleitete Skandalisierung einzuordnen. 

Diese Zurückhaltung beleuchtet zugleich den Schwachpunkt des ansonsten recht mutigen Buches. Die Autorin, die mit „Fridays fot Future“, „Mee Too“ und „Black Lives Matter“ sympathisiert, verschließt die Augen vor dem mittlerweile massiven Machtgehabe dieser Opfergruppen, die auf der Grundlage einer amoklaufenden Sensibilisierung nach realer finanzieller und politscher Macht greifen. Auch die Übergriffe gewalttätiger Minderheiten an britischen, US-amerikanischen und deutschen Universitäten bleiben unerwähnt.

Svenja Flaßpöhler: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 240 Seiten, 20 Euro

Foto: Kunstdemo zum Tag der Gewalt gegen Frauen von Josef Meseg 2020: Hart am Mahlstrom der Politischen Korrektheit