© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Fair geht anders
AfD I: Nach wie vor stellt die Fraktion keinen Vizepräsidenten im Bundestag, dann werden ihr auch die Vorsitzposten in den Ausschüssen weggenommen. Kommt jetzt Hilfe aus Karlsruhe?
Jörg Kürschner

Die Geschäftsordnung des Bundestags sage „zutreffend, daß die Ausschüsse ihre Vorsitzenden ‘bestimmen’, nicht wählen“, heißt es im Standardwerk „Der Bundestag“ des Staatsrechtlers Friedrich Schäfer. Die Aussage ist mehr ein halbes Jahrhundert alt, gültig ist sie immer noch. Schäfer war nicht nur Theoretiker, er kannte das Metier auch aus der Praxis. 1969 wurde der Sozialdemokrat von seiner Fraktion zum Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestags bestimmt. Über 50 Jahre später läßt es Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) geschehen, daß der von der AfD-Fraktion bestimmte Kandidat Martin Hess durch einen Trick um genau diesen Posten gebracht wird. 

In der konstituierenden Sitzung des Ausschusses waren sich die anderen Fraktionen von Union bis Linke einig, Hess nicht als gesetzt zu betrachten, sondern in geheimer Wahl über den Vorsitz zu entscheiden. Daß in der Geschäftsordnung des Bundestags (Paragraph 58) ausdrücklich von „bestimmen“ die Rede ist, wurde bewußt mißachtet. Die Praxis des Bestimmens „entspricht altem deutschen Parlamentsbrauch“, befand einst der renommierte Staatsrechtler Julius Hatschek. Das war 1915.

Das Scheitern von Hess blieb kein Einzelfall. In „geheimer Wahl“ ließen die anderen Parteien auch dessen Fraktionskollegen Jörg Schneider und Dietmar Friedhoff durchfallen, denen gleichfalls der ihnen zustehende Vorsitz im Gesundheitsausschuß und im Entwicklungshilfeausschuß verweigert wurde. In einer verabredeten Aktion, geleitet von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), einem Rechtsanwalt, hatten sich die anderen Parteien über die Minderheitenrechte der AfD hinweggesetzt. 

Mit der Folge, daß anstelle von Hess die frühere DDR-Freundschafts-Pionierleiterin und heutige Linken-Abgeordnete Petra Pau zur kommissarischen Vorsitzenden bestellt wurde (JF 52/21–1/22). „Die Ergebnisse sind zu akzeptieren“, befand Pau lapidar, seit 2006 Bundestagsvizepräsidentin. 

Dagegen hat die AfD-Fraktion nun im Wege eines Organstreitverfahrens beim Bundesverfassungsgericht eine Einstweilige Anordnung mit dem Ziel beantragt, die drei bestimmten, aber verhinderten Ausschußvorsitzenden noch in dieser Woche in ihre Rechte und Pflichten einzusetzen. Zu Wochenbeginn hatte sich noch keine Entscheidung abgezeichnet. Er habe weder aus Karlsruhe irgendwelche Nachrichten bekommen, noch habe das Bundestagspräsidium Lösungsvorschläge unterbreitet, betonte der Justitiar der Fraktion, Stephan Brandner, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Er mache sich auch keine großen Hoffnungen. 

In dem Antrag beklagt die AfD-Fraktion eine Verletzung ihrer Rechte auf Gleichbehandlung sowie auf eine faire Anwendung der Geschäftsordnung und effektive Opposition. „Es liegt auf der Hand, daß der Minderheitenschutz willkürlich durchbrochen werden könnte, wenn die Mehrheit in einem Ausschuß einen von der Minderheitenfraktion Entsandten einfach ‘nicht wählen’ oder ‘abwählen’ könnte“, schreibt der Prozeßbevollmächtigte, der Staatsrechtslehrer Michael Elicker. 

Nach seiner Ansicht geht es der Parlamentsmehrheit um eine Neuinterpretation der Geschäftsordnung. Der Regelfall der Benennung bzw. Entsendung durch die Fraktionen soll als „stillschweigender Wahlakt“ umgedeutet werden. Daß den Ausschußmitgliedern eine bestimmte Entscheidung von den Fraktionen nicht einfach vorgegeben werden könne, wird in der Literatur kaum vertreten. Eine „Nichtwahl“ lasse sich nur bei durchgreifenden Zweifeln an der Eignung der Person rechtfertigen, heißt es in dem AfD-Antrag. Gegen die drei AfD-Kandidaten sind aber keine persönlichen Vorbehalte geltend gemacht worden. 

In „frontaler Weise“ mit Tradition gebrochen

Es ist unbestritten, daß die Ausschüsse die eigentlichen Arbeitseinheiten des Parlaments sind. Dort werden seit jeher die Entscheidungen des Plenums vorbereitet, also auch die Regierung durch die Opposition kontrolliert. Die Bundestagsmehrheit habe „in geradezu frontaler Weise“ mit einer jahrzehntelangen Tradition gebrochen, heißt es in dem Antrag. Dies gelte zugleich für die 2019 ins Werk gesetzte Abwahl des Rechtsausschußvorsitzenden Brandner. Ein bisher einmaliger Vorgang seit der erstmaligen Konstituierung des Bundestags im Herbst 1949.

Für „untauglich“ hält Elicker die Argumentation einzelner Abgeordneter, einer in Teilen vom Verfassungsschutz beobachteten Partei dürfe man nicht den Vorsitz im sicherheitssensiblen Innenausschuß überlassen. Die AfD kann sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berufen. Solange eine Partei nicht vom höchsten deutschen Gericht für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst worden ist, genießt sie eine uneingeschränkte Bestandsgarantie und ist ihr die freie Betätigung garantiert. Diese sieht die AfD auch durch die seit 2017 andauernde Nichtwahl ihrer Kandidaten für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten beeinträchtigt. Sieben Bewerber sind seitdem gescheitert, nicht aufgrund fehlender fachlicher Eignung, vielmehr wegen ihrer Zugehörigkeit zur AfD. 

Eine Verkürzung ihrer parlamentarischen Minderheitenrechte beklagt die AfD nicht nur im Bundestag. Im niedersächsischen Landtag bemühen drei AfD-Politiker den Staatsgerichtshof, da sie als fraktionslose Parlamentarier politisch kaltgestellt seien. Zur Erinnerung: In Hannover war die Fraktion 2020 an internen Machtkämpfen zerbrochen. Die Bildung einer parlamentarischen Gruppe mit abgestuften Rechten sieht die Geschäftsordnung im Gegensatz zu entsprechenden Regelungen etwa in Thüringen oder im Bund nicht vor. So gestaltet sich der Abgeordnetenalltag im hannoverschen Leineschloß aufgrund eingeschränkter Rede- und Antragsrechte mühsam und schwerfällig. 

Die SPD als größte Mehrheitsfraktion im niedersächsischen Landtag zeigt den Fraktionslosen die kalte Schulter. „Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um zerstrittene Rechtsextreme, sie sind keine Opfer vermeintlich unfairer Regelung“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Sozialdemokraten, Wiard Siebels, schadenfroh. Am 9. Oktober wird der Landtag neu gewählt.

Foto: Bundesverfassungsrichter: Keine persönlichen Vorbehalte geltend gemacht