© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Bloß nicht vor die Wand fahren
AfD II: Nicht zum ersten Mal werfen Abgeordnete der Fraktionsspitze fehlende Führung vor / Keine „Partei der Wüteriche“ werden
Christian Vollradt

Die Stimmung? Eher schlecht. Von Aufbruchstimmung ist in der AfD-Bundestagsfraktion nichts zu spüren. Unter Mitarbeitern hatte es viel Unmutsäußerungen gegeben, weil Verträge (noch) nicht verlängert worden waren. Beschwerden darüber gingen dann – nicht unüblich im „gärigen Haufen“ (Alexander Gauland) – über den großen Verteiler an alle Abgeordneten. Was wiederum für Kopfschütteln und neue Verärgerungen sorgte. Es werde sich in Fraktionssitzungen mehr angeschrieen, soll sich ein desillusioniertes Führungsmitglied im kleinen Kreis beklagt haben.  

Bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst hatte die AfD schlechter abgeschnitten als vier Jahre zuvor. Und dann verließen zur Jahreswende auch noch zwei Abgeordnete die Fraktion (JF JF 2/22). „Trotz des Erfolges, wieder in den Bundestag gekommen zu sein, führt ja nun nichts an der Tatsache vorbei, daß wir 20 Prozent unserer Wähler verloren haben“, meinte jüngst der verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Rüdiger Lucassen. Der Chef des größten Landesverbands weist nicht zum ersten Mal auf die Notwendigkeit der Selbstkritik hin. Da es „grundsätzliche Probleme“ in den eigenen Reihen gebe, könnte dies weitere Politiker dazu bewegen, Fraktion und Partei zu verlassen. Lucassen kritisierte zudem, man habe noch keine Strategie für die Rolle als (kleinere) Opposition neben der Union. „Es hilft ja nichts, das beste Produkt im Regal zu haben, wenn der Laden nach außen hin schlecht aussieht“, so Lucassen im ZDF.

Hinter vorgehaltener Hand äußern viele, diese Kritik zu teilen. Doch die meisten bleiben mit dem Kopf hinter der Deckung. Auch aus Angst, andernfalls bei parteiinternen Wahlen schlecht abzuschneiden. „Alle meckern, aber im entscheidenden Moment macht keiner den Mund auf“, so ein Funktionsträger. Dabei sei vielen klar, daß man „gegen die Wand fährt, wenn wir so weitermachen“. 

Bei den Fraktionschefs kommt das natürlich nicht gut an. Die jüngsten Austritte seien „sehr bedauerlich“, ihre Beweggründe jedoch unterschiedlich und „sehr individuell“, so Alice Weidel gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Co-Fraktionschef Tino Chrupalla ergänzte: „Wer in Deutschland echte Oppositionspolitik macht, muß über Duldsamkeit und Selbstbeherrschung verfügen. Kritiker der Regierung sind hier einem hohen sozialen Druck ausgesetzt.“ Der Fraktionsführung sei es gelungen, „die vielfach heraufbeschworenen Abgänge nach der Bundestagswahl zu verhindern und integrativ zu wirken“. Tatsächlich sollen mindestens zwei weitere Fraktionsmitglieder kurz vor dem Austritt gestanden haben.  

Letztlich gehe der Streß in der Fraktion auch auf eine nicht gerade motivierte Stimmung in der gesamten Partei zurück, ist ein weiterer Funktionär überzeugt. Mit den Corona-Protesten könne man zwar die eigene Klientel mobilisieren, darüber hinaus aber kaum jemanden. Hinzu kommt das Gefühl, in einer Art „Interregnum“ zu leben. Der Bundesvorstand zerstritten, ein Termin für den verschobenen Bundesparteitag steht offiziell nocht nicht fest. „Alles dümpelt so vor sich hin.“ Für den 5. März haben Bundesvorstand und Landesvorstände einen bundesweiten Aktionstag unter dem Motto „Gegen Impfpflicht – für Freiheit“ geplant, wobei den Landesverbänden überlassen bleibt, was für Aktionen sie machen. Besorgt schauen jedoch viele in der Partei auf das Frühjahr. Dann stehen im Saarland (27. März), in Schleswig-Holstein (8. Mai) und in Nordrhein-Westfalen (15. Mai) Landtagswahlen an. In den Bundesländern liegt die AfD in Umfragen derzeit zwischen sieben und neun Prozent. Doch vor allem an der Saar und im nördlichsten Bundesland sind die Verbände zerstritten. Wie vor diesem Hintergrund ein guter Wahlkampf gemacht werden solle, sei schleierhaft, meint ein sichtlich demotiviertes Mitglied. Daß die AfD aus einem Landtag wieder herausfliegen könnte, mag man sich lieber gar nicht vorstellen. 

Derzeit kursiert in einigen Chatgruppen der AfD ein Neujahrsschreiben, in dem es unter anderem heißt: „Die AfD ist nach wie vor auch eine Partei für Wertkonservative wie sie eine Partei für Liberale, Christsoziale und unorthodoxe Linke ist. Eine Partei der Wüteriche, zu kurz Gekommenen und Denkfaulen darf sie nicht werden.“ Der Rundbrief stammt allerdings nicht von diesem Jahreswechsel, sondern von Silvester 2013. Verfaßt hat die Zeilen auch nicht etwa Jörg Meuthen, sondern Alexander Gauland. Seine Mahnung, so sind die Verbreiter dieser acht Jahre alten Zeilen offenbar überzeugt, sei jedoch sehr aktuell.