© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Es kommen mehr
Migration: Die Zahl der Asylbewerber steigt wieder. In den Erstaufnahmen wird der Platz knapp
Hinrich Rohbohm

Was die drei Männer sind, ist leicht zu erkennen. Sie haben ihre weißen Zettel dabei. Jene Schreiben, mit denen die Ausländerbehörden Asylbewerber von Erstaufnahmeeinrichtungen ausstattet, um sie zu anderen Unterkünften zu schicken. Die Männer haben gerade die Zentrale Aufnahmestelle in Magdeburg verlassen, machen sich nun auf zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, um die Reise in ihr neues Domizil anzutreten.

Während die Zuwanderer in der Erstaufnahme noch in Gemeinschaftsunterkünften leben, werden ihnen später zumeist eigene Apartments zugewiesen. Ein Verfahren, das sich angesichts der zunehmenden Wohnungsnot zu einem Problem mit gewaltigem sozialen Sprengstoff entwickelt.

Im Gespräch mit Magdeburger Bürgern wird das schnell deutlich. „Immer mehr Menschen hier haben kein Dach über dem Kopf und werden obdachlos, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können, und wir nehmen munter weiter neue Asylanten auf“, schimpft ein 32 Jahre alter Familienvater. „Wissen Sie, was ich jeden Monat bezahlen muß? Was ich allein für Strom und Gas aufbringen muß? Wenn ich dann höre, daß wir freie Wohnungen auch noch kostenlos mit Migranten füllen, steigt in mir die Wut hoch“, echauffiert sich eine Rentnerin.

Auf nach Berlin – und nicht zurück nach Sachsen-Anhalt

Während immer mehr Deutsche kaum noch bezahlbare Wohnungen auf dem Immobilienmarkt bekommen, ist der Staat zur Unterbringung der Asylbewerber jedoch gesetzlich verpflichtet. Weil der Zuzug nach Europa wieder Fahrt aufgenommen hat und Deutschland bei der sogenannten Sekundärmigration aufgrund seiner hohen Sozialleistungen ein bevorzugtes Ziel ist, hat in den Kommunalverwaltungen schon seit längerem eine fieberhafte Suche nach neuem Wohnraum für Asylbewerber begonnen. Ein Vorgang, der Wohnungsnot und soziale Spannungen noch weiter verschärfen dürfte.

„Viele Einrichtungen können die Flüchtlinge schon jetzt kaum noch unterbringen. Deshalb laufen die Erstaufnahmestellen voll“, schildert ein Mitarbeiter der Magdeburger Zentralen Aufnahmestelle. Die Corona-Pandemie habe die Lage zusätzlich verschärft, weil aufgrund von Abstandsregelungen und Hygienevorschriften die Unterkünfte nicht voll belegt werden dürfen. „So mancher Asylbewerber bleibt daher mittlerweile deutlich länger in einer Erstaufnahmeeinrichtung als eigentlich vorgesehen, weil anderswo einfach keine Kapazitäten mehr vorhanden sind“, erklärt der Mitarbeiter. 

Die drei Asylbewerber haben inzwischen die Straßenbahnhaltestelle erreicht. Etwas ratlos stehen sie unter der gläsernen Überdachung, studieren die Fahrpläne. Sie kommen aus Afghanistan, soviel läßt sich von ihnen erfahren. Ansonsten ist die Kommunikation dürftig. Alle drei sprechen bisher noch kein Deutsch. Einer von ihnen öffnet seine Tasche, kramt einen Fünfzig-Euro-Schein hervor. Dabei kommt noch ein weiterer Fünfziger zum Vorschein. Ausreichende Finanzmittel scheinen heute zur Verfügung zu stehen.

Die Straßenbahn kommt, die Männer steigen ein. Wir folgen ihnen. Ausstieg am Hauptbahnhof. Kurze Debatte in der Bahnhofshalle. Dann begeben sich die drei zu den Gleisen. Das Ziel: Berlin. Berlin? Das ist nicht das Ziel, das auf den weißen Zetteln stand. Warum Berlin? Wir folgen ein weiteres Mal, steigen mit in den Regionalexpreß Richtung Hauptstadt. 90 Minuten später Ankunft am Berliner Hauptbahnhof. Die Männer steigen aus. Erneut kurze Beratung. Dann geht es in die S-Bahn. Das Ziel: die Station Westend. Aussteigen. Suchende Blicke am Bahnsteig. Dann hellen sich die Gesichter der Afghanen auf. Zwei mutmaßliche Landsleute kommen ihnen entgegen. Herzliche Umarmungen, Gespräche in einer uns fremden Sprache. Am Ende des Tages stellt sich heraus: Die drei Männer bleiben bei ihren Freunden in Berlin. Keine Rückfahrt nach Sachsen-Anhalt. Ein Einzelfall?

Unterkünfte als Umschlagplatz für Drogen

In der hessischen Stadt Gießen kommen wir inkognito mit einem ehrenamtlichen Helfer aus der „Refugees welcome“-Szene ins Gespräch. „Den Behörden ist es oftmals vollkommen egal, was mit den Geflüchteten passiert“, sagt er. „Die sind sogar ganz froh, wenn Unterkünfte nicht in Anspruch genommen werden. Dann ist wieder mehr Platz für die nächsten da.“ Auf Gießen treffe das jedoch nicht zu. Hier bemühe man sich verstärkt darum, Flüchtlinge aufzunehmen. Fast 3.000 Migranten sind in der dortigen Erstaufnahmeeinrichtung in der Rödgener Straße untergebracht. „Demnächst sollen die Kapazitäten erweitert werden“, erzählt der Helfer euphorisch. 

Eine Euphorie, die von Anwohnern nahe der Einrichtung nicht in jeder Hinsicht geteilt wird. „Jeden Abend Schlägereien. Mehrmals am Tag rückt hier die Polizei an“, schildert einer von ihnen die Alltagssituation. „Ich habe es so satt. Da blüht der Drogenhandel. Das geht schon seit Jahren so. Und jetzt sollen noch mehr kommen. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll“, läßt eine junge Mutter ihren Frust ab. Ihren Kindern habe sie „eingebleut, die Ecke dort zu meiden.“

Tatsächlich fordern SPD, Grüne und Linkspartei trotz der täglich stattfindenden Gewaltdelikte, Erpressungen und Diebstähle in der inzwischen berüchtigt gewordenen Einrichtung die Aufnahme weiterer Migranten. Ein entsprechender Antrag dazu wurde bereits im September vorigen Jahres an den Gießener Magistrat gestellt und von der Stadtversammlung abgenickt. Auch der Gießener Kreistag winkte den Antrag durch.

Glaubt man den Schilderungen der dort lebenden Einwanderer, herrschen innerhalb der Einrichtung anarchische Zustände. „Es haben sich Banden eingeschleust, die die Leute einschüchtern und die Unterkunft als Umschlagplatz für Drogen nutzen“, sagt einer von ihnen gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Flüchtlinge seien das nicht, sondern „Kriminelle“, die sich lediglich als Flüchtlinge ausgeben.  „Jeder will hier einfach nur noch raus, aber es gibt nicht genügend Unterkünfte. Einige leben deshalb schon seit über einem Jahr hier.“ Manche müssen sogar bis zu 18 Monate in der Sammelunterkunft ausharren. 

Durch die Zunahme an Migranten und gleichzeitigem Engpaß bei Unterkünften hat sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Erstaufnahmezentrum verdoppelt. Zusammen mit seinen Außenstandorten sind derzeit über 6.000 Menschen allein im Raum Gießen untergebracht. Noch zwei Jahre zuvor waren es gerade einmal rund 1.600.

In anderen deutschen Städten sieht es ähnlich aus. In Berlin wird aufgrund der gestiegenen Ankunftszahlen gerade ein im Jahr 2015 errichtetes Containerdorf reaktiviert, um dort ab Februar 200 weitere Migranten unterbringen zu können. In der Erstaufnahmeeinrichtung im rheinland-pfälzischen Speyer sind mit rund 900 Plätzen schon jetzt 50 Menschen mehr untergebracht als vorgesehen. Und im hessischen Friedberg muß nun ein ehemaliges Kasernengelände als Asyl­berwerberunterkunft herhalten. Das war eigentlich dafür ausersehen, um neuen Wohnraum für die einheimische Bevölkerung zu schaffen.

Foto: Asylbewerber in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt: Deutschland ist wegen hoher Sozialleistungen bevorzugtes Ziel