© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Ende der Ära Nasarbajew
Kasachstan: Ein kleiner Funke reichte, um das Land in Brand zu setzen
Michael Paulwitz

Telefone und Telegram stumm, Mobilfunk und Internet wiederholt blockiert, Verwandte und Freunde nicht erreichbar, und in den Nachrichtenportalen sich überschlagende Meldungen über Unruhen, Ausschreitungen und Zerstörungen insbesondere in der Millionenmetropole Almaty: Für die Bürger Kasachstans im In- und Ausland begann das Jahr 2022 mit Tagen der Ungewißheit und Sorge.

Inzwischen hat Präsident Kassym-Schomart Tokajew die Unruhen für beendet erklärt und eine neue Regierung eingesetzt, nachdem er am 5. Januar als Reaktion auf die Eskalation der Proteste das alte Kabinett entlassen hatte. Die Beseitigung der beträchtlichen Schäden vor allem in der südlichen Metropole Almaty, in der Autos und öffentliche Gebäude in Brand gesteckt, Restaurants und Geschäfte verwüstet und geplündert wurden, wird jedoch ebenso noch längere Zeit in Anspruch nehmen wie die Aufklärung der Hintergründe. 

Der Einsatz russischer Truppen ist zweischneidig

168 Tote und fast zehntausend Festnahmen sind die vorläufige Bilanz der Woche der Gewalt, die die zentralasiatische Republik erschüttert hat. Unter den Opfern sind nach offiziellen Angaben auch 18 Angehörige der Sicherheitskräfte; sogar von zwei Enthauptungen war zeitweilig die Rede. Mehr als 700 Angehörige von Sicherheitskräften und Militär und mindestens tausend Zivilpersonen wurden nach Zahlen der Regierung verletzt und in Krankenhäuser eingeliefert.

Die Schnelligkeit, mit der anfangs friedliche Kundgebungen gegen drastische Preissteigerungen bei Gas und Treibstoff in Gewalt und kriegsähnliche Szenen umschlugen, hat Beobachter im In- und Ausland überrascht. Nach Demonstrationen am Neujahrswochenende in der Ölprovinz Mangghystau am Kaspischen Meer im Südwesten des Landes gegen die binnen kurzer Frist erfolgte Verdoppelung der Preise für Flüssiggas, das als Kfz-Kraftstoff beliebt ist, kam es auch in anderen Landesteilen zu Protesten. Die hohe Inflation ist für viele Bürger Kasachstans eine schwere Belastung; hinzu kommt Unmut über die ungleiche Verteilung des Wohlstands in dem öl- und rohstoffreichen Land. Um die Lage zu beruhigen, hatte Präsident Tokajew die Einführung von Preisbeschränkungen verfügt.

Das allein konnte die Proteste nicht beenden. Unter die Demonstranten hatten sich Gewalttäter und Bewaffnete gemischt. Über deren Herkunft wird viel spekuliert. Die Spuren weisen in die organisierte Kriminalität, aber auch in Kreise der Geheimdienste und damit zugleich in das Umfeld des immer noch mächtigen früheren Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der das Land seit der Unabhängigkeit 1991 achtundzwanzig Jahre lang straff regiert hatte, bis er vor zwei Jahren den Stab an seinen Nachfolger Tokajew übergab.

Der machte „Provokateure“ und „lokale und ausländische Terroristen“ für die Ausschreitungen verantwortlich, gegen die Militär und Sicherheitskräfte mit großer Härte vorgingen; auch der Einsatz von Schußwaffen gegen Gewalttäter war freigegeben. 

Der Hinweis auf Kräfte aus dem „Ausland“ war zudem der formale Grund für die Anforderung von militärischer Unterstützung durch die von Rußland dominierte „Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit“ (OVKS). 

Der unerwartete Zug wurde von Moskau unverzüglich mit der Verlegung eines 2.500 Mann starken Truppenkontingents beantwortet, verstärkt durch kleinere Detachements von weiteren Partnern des Bündnisses, unter anderem aus Weißrußland und Armenien. Die Entsendung russischer Truppen in eine ehemalige Sowjetrepublik, zumal in ein Land mit immer noch rund zwanzig Prozent russischstämmiger Einwohner, die sich im Norden des Landes an der langen Landgrenze zu Rußland konzentrieren, ist zweischneidig. Die kasachische Führung betont denn auch, daß die ausländischen Truppen allein mit dem Schutz sensibler Infrastruktur beauftragt sei und auch schnellstmöglich wieder abziehen sollen; die ersten Truppenteile sollen sich schon wieder auf den Heimweg machen.

Wenig spricht für die Behauptung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, es gelte in Kasachstan eine „Farbenrevolution“ – also einen westlich orchestrierten „Regimewechsel“ – zu verhindern. Vielmehr nutzt der kasachische Präsident Tokajew, der in den zwei Jahren seiner Amtszeit bereits einige Reformanstöße gegeben hat, offenkundig die Krise, um seine eigene Position zu stärken. 

Präsident Tokajew hat im Zuge der Unruhen den Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat von seinem Vorgänger Nasarbajew übernommen und einige von dessen Vertrauten entlassen, darunter den früheren Geheimdienstchef Karim Masimov, der auch verhaftet wurde. Die Ära Nasarbajew scheint sich in Kasachstan unwiderruflich dem Ende zuzuneigen.

 Kommentar Seite 2

Foto: Sicherheitskräfte bei einer „Antiterroroperation“ in Almaty: 168 Tote und zehntausend Festnahmen als blutige Bilanz der Ausschreitungen