© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Viele Pleiten, explodierende Grundversorgertarife
Energiepolitik II: Einfach zu einem billigeren Versorger wechseln, um so Strom- und Gaskosten in Schach zu halten, ist kaum noch möglich
Marc Schmidt

Mitte vergangenen Jahres lag der Haushaltsstrompreis laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages in Deutschland bei 31,94 Cent pro Kilowattstunde (kWh) – das war erneut ein Weltrekord. 17,7 Cent waren Netzentgelte, Abgaben und diverse Steuern. Die EEG-Umlage für Biogas, Sonne und Wind lag bei 6,5 Cent. Nur 7,74 Cent waren Nettostrompreis und Vertriebskosten. Doch mit 24 Cent pro Kilowattstunde (kWh) lagen die aktuellen Nettopreise an der Leipziger Strombörse EEX im Dezember 2021 im Schnitt um 460 Prozent über dem Dezember 2020, der wegen einer Dunkelflaute mit 4,3 Cent als teuer galt.

Auch die Erdgaspreise, zu denen Energieversorger einkaufen, haben sich voriges Jahr mehr als verdreifacht. Für Verbraucher in Hamburg bedeutet dies beispielsweise, daß der günstigste verfügbare neue Gas-Tarif für eine geräumige Wohnung bei 16,5 Cent/kWh liegt – gegenüber Altverträgen ein Aufschlag von mehr als 60 Prozent. Die Folgen am deutschen Energiemarkt sind drastisch, für Lieferanten wie Kunden.

Die bislang in Vergleichsportalen wie Biallo, Check24 oder Verivox beworbenen Billigtarife wurden meist nicht mit teuren, langfristigen Bezugsverträgen gesichert, sondern enthielten einen hohen Anteil tagesaktuellen Einkauf. Sie wurden mit einem Stromeinkaufspreis von weniger als fünf Cent kalkuliert. Inzwischen sind diese Tarife für keinen Anbieter mehr kostendeckend. Die Anbieter müssen die Preise erhöhen und verlieren zahlende Kunden, deren teure Anwerbung sich nach wenigen Monaten noch nicht amortisiert hat. Doch auch ein Wechsel bringt Verbrauchern kaum noch etwas, viele Gasversorger nehmen keine Neukunden mehr auf. 640 Stromanbieter haben ihre Preise für Neukunden drastisch erhöht, davon fast 400 Anbieter um mehr als zwei Drittel.

Die gestiegenen Beschaffungspreise betreffen auch die sogenannte Grund- oder Ersatzversorgung, in der sich alle Kunden wiederfinden, deren Billig­anbieter pleite gegangen ist. Die Zahl der Kunden, bei denen die örtlichen Stadtwerke die Abrechnung und Versorgung kurzfristig übernehmen müssen, wächst. Anbieter wie Dreischtrom, Enyway, Fulminant Energie, Lition Energie, Neckermann Strom, Otima Energie, Smiling Green Energy oder Stromio zählen zu den Pleiteunternehmen. Die Ersatzversorger müssen den zusätzlichen Energiebedarf nun zu hohen EEX-Preisen einkaufen – und sie geben das an die einstigen „Sparfüchse“ unter den Kunden weiter – was für die ein Schock ist.

Grundversorgung ist eine gesetzliche Pflichtaufgabe, der sich der jeweils kundenstärkste Anbieter in einem Netz nicht verweigern darf. Gleichwohl ist die Aufgabe unbeliebt, denn neben Kunden, die meist nur kurzfristig durch Anbieterinsolvenzen in diese Versorgung rutschen, finden sich dort Abnehmer mit schlechter Zahlungsmoral, die wegen Schufa-Einträgen den Anbieter nicht wechseln können oder wollen. Die Niederrhein Energie und Wasser (New), ein kommunaler Grundversorger im Großraum Mönchengladbach, etablierte daher vier Grundtarife. Neu hinzukommende Stromverbraucher sollten zunächst 98 Cent/kWh bezahlen.

Proteste von Kunden und Verbraucherzentralen

Begründet wurde dies damit, daß man 7.500 Kunden der insolventen Grünwelt-Marken habe übernehmen müssen. Diese Pleiteopfer mußte die New zu teuren aktuellen EEX-Preisen versorgen. Die zugewiesenen Neukunden wollte man so zu einem schnellen Tarifwechsel animieren. Da das Grünwelt-Versorgungsende wenige Tage vor Weihnachten kam, bestand die Gefahr, daß die New-Neukunden erst nach den Weihnachtsferien bemerkt hätten, daß sie ihr Strom kurzzeitig mehr als das Dreifache des bisherigen deutschen Durchschnittspreises kostet. Kühlschrank und WLAN laufen auch während einer Abwesenheit weiter, zudem befinden sich etliche Geräte im Bereitschaftsmodus, so daß in einem Urlaub der Stromverbrauch eines Haushalts nur um 20 bis 30 Prozent sinkt.

Kunden, Verbraucherzentralen und Politiker beschwerten sich bei der New – nun liegt der Grundtarif bei 58 Cent/kWh – das Doppelte der bisherigen Billiganbieter und dreimal soviel wie im Atomstromland Frankreich. Die Stadtwerke Osnabrück liegen mit ihrem am 15. Dezember 2021 eingeführten „Fairtarif“ von 61,88 Cent/kWh, der vor allem die kurzfristige Ersatzversorgung für Stromio-Pleitekunden sicherstellt, sogar noch darüber. Allerdings wird bei aller berechtigten Aufregung gern übersehen, daß Grundversorger ihre Ersatztarife nicht frei kalkulieren dürfen, sondern ihre Berechnung bei der Bundesnetzagentur einreichen müssen. Diese Behörde hat sich allerdings selten für die Stromkunden oder eine effiziente Kontrolle der diversen Strom- und Gasanbieter eingesetzt: Pleiten größerer Firmen gibt es nicht erst seit Ende 2021. Und der höchste Strompreis der Welt ist nicht markt-, sondern politisch bedingt.

 www.eex.com

 www.bundesnetzagentur.de