© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Ein Symbol der Versöhnung
Stadtgestaltung: Die AfD-Fraktion im Hamburger Landesparlament plädiert für einen Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Nikolaikirche und löst damit eine geschichtspolitische Debatte aus
Peter Möller

Auch als Ruine ist sie überragend. Mit 147,3 Metern dominiert der erhaltene Turm der zerstörten Hamburger Hauptkirche St. Nikolai die Silhouette der Hansestadt, die bis heute von ihren fünf Hauptkirchen geprägt wird. Einzig der Fernsehturm, der außerhalb der den historischen Stadtkern umgebenden Wallanlagen steht, stellt den fünfthöchsten Kirchturm der Welt, der bei seiner Fertigstellung 1874 für drei Jahre sogar das höchste Gebäude der Welt war, in den Schatten.

Wie kaum ein anderes Bauwerk der Stadt ist die bis auf das Jahr 1195 zurückgehende Kirche mit den beiden großen Katastrophen der Stadt der vergangenen 200 Jahre verbunden: dem Großen Brand von 1842, dem mit einem großen Teil des alten Hamburgs auch der mittelalterliche Vorgängerbau der heutigen Kirche zum Opfer fiel, und der Zerstörung der Stadt während der Operation „Gomorrha“ im Sommer 1943 durch alliierte Luftangriffe. Doch anders als im 19. Jahrhundert, als der vom britischen Architekten George Gilbert Scott errichtete neugotische Bau mit dem imposanten Turm zu einem Symbol für den Wiederaufbau und den Stolz der Hansestadt wurde, blieb die schwer getroffene, aber nicht völlig zerstörte Kirche nach 1945 anders als die ebenfalls bis auf die Grundmauern zerstörten Kirchen St. Jacobi und St. Katharinen als einzige der Hamburger Hauptkirchen eine Ruine.

Doch geht es nach der AfD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, könnte sich das bald ändern. In einem in der vergangenen Woche vorgestellten Antrag (Drucksache 22/6731) spricht sich die Partei mit Verweis auf Zerstörung und Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche dafür aus, auch die Nikolaikirche wieder aufzubauen. „Das würde zweifellos zur Belebung der Innenstadt beitragen, vergleichbar auch der Neuen Altstadt Frankfurt. Nicht nur im Sinne eines touristischen Anziehungspunktes und Wahrzeichens – sondern auch als weiteres, hoffnungsvolles Symbol der Versöhnung“, warb AfD-Fraktionsvize Alexander Wolf für das ambitionierte Vorhaben, mit dem seine Partei an die aktuelle Diskussion über die Umgestaltung und Aufwertung des neben der Nikolaikirche gelegenen Hopfenmarktes anknüpft.

Die derzeit als Parkplatz genutzte Fläche soll neu gestaltet werden und mit einem sogenannten „archäologischen Fenster“ den Blick auf die darunter verborgenen Überreste der 1021 errichteten „Neuen Burg“ freigeben, einer der Keimzellen des heutigen Hamburgs und mit einem Durchmesser von 170 Metern eine der größten Anlagen ihrer Zeit in Norddeutschland. Der einst zentral gelegene Hopfenmarkt fristet seit Jahrzehnten ein Schattendasein, seit die in den fünfziger und sechziger Jahren ohne Rücksicht auf den historischen Stadtgrundriß durch die Alt- und Neustadt geschlagene Ost-West-Straße (heute Ludwig-Erhard- und Willy-Brandt-Straße) den Markt nach Süden begrenzt und so von der südlichen Altstadt und dem Hafen abgeschnitten hat.

Auch wenn der Vorschlag zum Wiederaufbau der Nikolaikirche nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern sich auf die vom Hamburger Senat angestoßene Debatte zur Wiederbelegung des Areals rund um den Hopfenmarkt bezieht, mußte die AfD-Fraktion mit Widerspruch für ihre Pläne zur Rekonstruktion von St. Nikolai rechnen. Auch die mittlerweile zahlreichen erfolgreichen städtebaulichen Rekonstruktionen der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland, wie etwa der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden, der Schlösser in Berlin, Potsdam und Brauschweig oder das Großprojekt der Teilrekonstruktion der Frankfurter Altstadt, wurden von teilweise heftigen und über den Abschluß der Bauarbeiten fortgeführten Diskussionen über Sinn und Unsinn einer Rekonstruktion zerstörter Bauwerke begleitet.

Am Beispiel der Garnisonkirche in Potsdam zeigt sich gerade dieser Tage, daß die Gegner nicht lockerlassen. Mit einem Überraschungscoup versuchte die Stadtführung Ende vergangenen Jahres die bisherigen Planungen, nach denen ein aus der DDR stammendes Rechenzentrum, das teilweise auf dem Grundstück der einstigen Kirche steht, zugunsten des Wiederaufbaus des alten Kirchenschiffes bis 2023 abgerissen wird, auszuhebeln – mit der Folge, daß der sich derzeit im Bau befindliche Turm der Garnisonkirche ein Solitär bleiben würde, der Wiederaufbau bliebe unvollendet. Der Fall, der noch die Gerichte beschäftigen könnte, zeigt, mit welch harten Bandagen auf dem sensiblen Feld der städtebaulichen Rekonstruktionen gekämpft wird.

Mehr als nur einen Vorgeschmack darauf bekam nun auch die Hamburger AfD-Fraktion. Die Hamburger Ausgabe der Bild-Zeitung setzte sich an die Spitze der Rekonstruktionsgegner und versuchte, aus einer städtebaulichen eine geschichtspolitische Debatte zu machen.

Hierfür ließ sie den Gründer des 1987 aus der Taufe gehobenen Förderkreises „Rettet die Nikolaikirche“, Ivar Buterfas, zu Wort kommen. Der Sohn eines jüdischen Vaters, dessen Familie im Nationalsozialismus verfolgt wurde, lehnt die Idee eines Wiederaufbaus der Kirche, für deren maroden Turm er sich einst engagiert hatte, entschieden ab („Schwachsinn, ekelhaft!“) und argumentiert dabei weniger architektonisch oder städtebaulich, sondern persönlich: „Meine Familienmitglieder sind in Auschwitz durch den Feuerofen gegangen. Mit den Strolchen der AfD würde ich durch keine Tür gehen“, sagte Buterfas der Bild und fügte hinzu: „Das Mahnmal muß ein Bollwerk gegen die Rechten bleiben.“ Zugleich äußerte er Zweifel an der Finanzierung des Projektes. „Außerdem hätte es schon vor 25 Jahren mehr als eine Milliarde gekostet, wir haben das geprüft.“

Ähnlich wie Buterfas argumentierte der Vorsitzende der SPD-Fraktion in der Bürgerschaft, Dirk Kienscherf. Er bezeichnete den Vorschlag, die Nikolaikirche wiederaufzubauen, als „geschichtsvergessen und gefährlich“. Gerade der nicht erfolgte Wiederaufbau zeige, wozu „Naziherrschaft, Krieg und Terror geführt haben.“ Ablehnend äußerten sich auch CDU, Grüne und Linkspartei: „Kein Wunder, daß so ein Gedenkort für die Folgen des Faschismus der AfD ein Dorn im Auge ist“, sagte der Bürgerschaftsabgeordnete Norbert Hackbusch (Linkspartei). Dagegen forderte die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein, der Vorschlag der AfD „sollte zuerst gesellschaftlich breit diskutiert werden“.

Diese Forderung dürfte ganz im Sinne von Alexander Wolf und der AfD-Fraktion sein. Denn ihnen dürfte von Anfang an klar gewesen sein, daß die kühne Forderung nach einem Wiederaufbau des neogotischen Kirchenbaus im besten Falle der Auftakt zu einer jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelangen Diskussion sein kann – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und ihnen dürfte klar sein, daß die Chancen darauf, daß eines Tages tatsächlich mit dem Wiederaufbau begonnen wird, äußerst gering sind. Denn die Hansestadt hat sich über die Jahrhunderte den zweifelhaften Ruf einer „Freien und Abrißstadt Hamburg“ erworben. Wann immer sich der Unterhalt eines historischen Gebäudes nicht mehr lohnt, oder ein Neubau an Stelle eines Altbaus ein gutes Geschäft verspricht, ist die Stadt bereit, auch denkmalgeschützte Häuser oder gar ganze Quartiere zu opfern. Der Abriß der mittelalterlichen Domkirche Anfang des 19. Jahrhunderts ist da nur das prominenteste Beispiel. Der Wiederaufbau eines historischen Gebäudes, noch dazu einer Kirche, kommt in dieser Logik nicht vor. Oder auf den konkreten Fall bezogen: Eher reißen die Hamburger den Michel ab, als daß sie die Nikolaikirche wieder aufbauen.

Diese pessimistische Einschätzung ändert nichts daran, daß es gut und richtig wäre, St. Nikolai endlich wieder aufzubauen und zu einem Symbol für die Neuentdeckung und „Neubesiedelung“ der einst dichtbewohnten Hamburger Altstadt zu machen, die nach den Zerstörungen und dem darauffolgenden Bau zahlloser Geschäfts- und Bürohäuser nahezu entvölkert wurde. Erste Schritte, zumindest einige der architektonischen Verheerungen der Nachkriegszeit zu heilen, sind ausgerechnet im Umfeld der Nikolaikirche bereits im Gange. An der Nordseite des Platzes wurde vor einiger Zeit das gesichtslose Gebäude eines Versicherungskonzernes aus den siebziger Jahren abgerissen, wodurch eine überbaute Straße wieder freigelegt und der alte Stadtgrundriß an dieser Stelle wiederhergestellt werden konnte (JF 47/18). Wer optimistisch ist, könnte daher sagen: Ein erster Schritt für eine Stadtreparatur in Hamburg, an deren Ende vielleicht die wiedererrichtete Hauptkirche St. Nikolai steht, ist bereits gemacht.

Foto: Ruine der ehemaligen Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg: Heute Mahnmal und Gedenkstätte gegen den Bombenkrieg