© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Die doppelte Verführung
Einheit aus Leben und Literatur: Zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers Franz Fühmann
Thorsten Hinz

Der Schriftsteller Franz Fühmann, der vor 100 Jahren am 15. Januar 1922 geboren wurde, hat Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Nachdichtungen und vor allem hervorragende Essays hinterlassen. Sein literarischer Rang mag nicht der allerhöchste sein, doch er repräsentiert eine Einheit aus Leben und Literatur, die einzigartig ist. Er hatte zwei deutsche Diktaturen erlebt, bejaht und sie in qualvollen Selbstbefragungen, die bis an die Grenze zur Selbstzerstörung gingen, überwunden.

Geboren wurde Fühmann in Rochlitz an der Iser im Riesengebirge als Sohn eines Apothekers. Mit zehn Jahren wurde er in das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien aufgenommen, aus dem er 1936 ausbrach. 1938, nach der Angliederung des Sudetenlandes an das Reich, wurde er Mitglied der Reiter-SA und meldete sich – ein 17jähriger, begeisterter Nationalsozialist – 1939 zur Wehrmacht, die ihn aber abwies. 1941 legte er das Abitur ab, wurde Nachrichtensoldat an der Ostfont und in Griechenland. 1942 veröffentlichte er erstmals Gedichte. „Karg und klar ist die Zeit / Ehern waltet die Not / Zucht und Demut vollenden das Leid.“ Fast bis zum Schluß glaubte er an den „Endsieg“.

1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, die vier Jahre andauerte. 1946 wurde er zur Antifa-Schule Noginsk bei Moskau delegiert, wo er durch ein geistig-moralisches Purgatorium ging, das er Ende 1949 als überzeugter Kommunist verließ. „Aber das Leben ist teuer,/ wir ersetzen es nie./ Klar und ungeheuer/ zwingt uns die Schuld in die Knie“, heißt in dem Gedicht „Von der Verantwortung des Dichters“ aus dem Jahr 1950. 

Er ließ sich in der DDR nieder, verfaßte Gedichte und – in seiner Eigenschaft als Kulturfunktionär der Blockpartei NDPD – zahllose Artikel, die ein starker Dogmatismus kennzeichnete. Die Erzählung „Kameraden“ (1955), die von einer unerhörten Begebenheit aus dem Krieg im Osten berichtet, blieb gleichfalls im Rahmen des sozialistischen Realismus, doch erklang darin erstmals ein individueller Ton.

Distanziert über die Umerziehung in der Antifa-Schule berichtet

1963 veröffentlichte Marcel Reich-Ranicki den von profunder Werkkenntnis zeugenden Aufsatz „Kamerad Fühmann“. Er konzedierte Fühmann literarisches Talent, zeigt aber auf, daß seine Metaphern („Und wir bringen dir, heiliges, anderes Deutschland / unser Leben als Quader zum Bau deiner Zukunft“) und Schreibweise dem Fundus des Nationalsozialismus entstammten; nur die ideologischen Vorzeichen hatten sich geändert.

Reich-Ranicki hatte ausgesprochen, was Fühmann insgeheim wußte oder ahnte. Bereits das Geständnis der stalinistischen Verbrechen durch den sowjetischen Parteichef Chruschtschow 1956 hatte ihn tief erschüttert. Er geriet in eine Lebens- und Schaffenskrise, die sich bis zur lebensgefährlichen Alkoholsucht auswuchs. 1964 formulierte er in einem „Brief an den Minister für Kultur“ seine Absage an eine Kulturpolitik, die den Schriftstellern ihre Stoffe dekretierte. Künftig wolle er sich seinen authentischen Erfahrungen und Lebensthemen widmen. 

Sein Lebensthema wurde die doppelte Verführung durch die zwei Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Auf die Verführung durch den Faschismus war die antifaschistische Verführung gefolgt. Im Rückblick sagte er: „Ich kam ja wirklich aus einem finsteren Schwarz und dachte nun, ich gehe in das strahlende, helle, untrübbare Morgenrot. Das war nicht der Fall, und meine Konzeption zerschliß.“

Der Judenmord bedeutete für ihn kein singuläres Ereignis

Im Großessay „Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht“ (1982) hat er im ironisch-distanzierten Tonfall über die Umerziehung in der Antifa-Schule berichtet. Krönender Abschluß war der Nachweis, daß die NS-Barbarei ihre Wurzel im kapitalistischen Privateigentum an Produk-tionsmitteln hatte. Mit ihrer Enteignung packte der Sozialismus den Faschismus folglich an der Wurzel. Der totale Bruch, an den Fühmann damals glaubte, erwies sich jedoch als das „Kontre-Stück zu der Weltsicht, die ehedem unser Denken beherrschte“. Gute Bücher zu verbrennen, war böse, schlechte Bücher zu verbrennen war hingegen gut. Was gut war und was böse, das definierten allein die Guten, die Antifaschisten, die freie Bahn hatten, ihre vorgebliche Güte noch im Bösen auszuleben.

Als seinen eigentlichen Eintritt in die Literatur betrachtete Fühmann das 1973 erschienene Buch „Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens“, eine Mischform aus Reisebericht, Traumnotaten, Aphorismen, Dialogen, Reflexionen. Hier formulierte er seinen persönlichen DDR-Gründungs-Mythos: „Meine Generation ist über Auschwitz zum Sozialismus gekommen.“ Ein verblüffender Satz, denn in der DDR galt das NS-Regime nach Georgi Dimitroff als „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Der Judenmord war eine barbarische Begleiterscheinung, aber nicht ihr zentrales Ereignis.

Fühmann reichte die ökonomie- und klassenkampfbasierte Erklärung nicht mehr aus. Auschwitz war für ihn die äußerste Steigerung der in einer unveränderlichen „Conditio humana“ angelegten Negativ-Möglichkeiten, wie sie in Mythen und Märchenmotiven ausgedrückt wird: „Ich rieche Menschenfleisch“, sagt der Teufel im Märchen. 

Das bedeutete auch, daß Auschwitz für ihn kein der Geschichte enthobenes, einmaliges Ereignis darstellt. Die 22tägige Reise hatte Fühmann nach Ungarn geführt, wo der Tataren- bzw. Mongolensturm in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der die ungarische Nation beinahe ausgelöscht hätte, tief im Kollektivgedächtnis verankert war. Lange bevor der Historiker Ernst Nolte den Holocaust als „asiatische Tat“ charakterisierte, schrieb Fühmann: „Das Schicksal, das die Tataren ihren Besiegten zu bereiten versuchten, kann nur mit der ‘Endlösung der Judenfrage’ verglichen werden.“ Detailliert zählte er die angewandten Methoden vom Pogrom über die Ghettoisierung, Ausraubung, Gestellungslisten bis zur Liquidierung auf. 

Jahre später räumte er explizit ein, daß auch der Sozialismus keinerlei Sicherheit vor Wiederholungstaten bot: „Es wurde eine dünne Schicht Ideologie darübergelegt, aber drunter blieben die Fragen lebendig und sind es bis heute, sind unabgegolten und in der fürchterlichsten Konsequenz wiederauferstanden im Kambodscha des Pol Pot, was ja das Kreuz des Sozialismus ist und bleibt.“ Selbstkritisch schrieb er: „Die neue Gesellschaft war zu Auschwitz das Andere“, deshalb habe er sich „ihr mit ausgelöschtem Willen als Werkzeug zur Verfügung (gestellt), anstatt ihr Mitgestalter mit eben dem Beitrag, den nur ich leisten konnte, zu sein.“ Idealerweise hätte er thematisieren müssen, daß die DDR, die sich als politisch-weltanschauliches Gegenteil und als die staatgewordene Lehre aus der NS-Vergangenheit legitimierte, Verhaltensweisen goutierte und förderte, die bereits das NS-Regime gestützt hatten.

Im öffentlichen Raum war das höchstens andeutungsweise möglich. Privat wurde Fühmann deutlicher. Als 1979 die politischen Strafgesetze in der DDR verschärft wurden, schrieb er an Christa Wolf: „Der Begriff der Legalität ist liquidiert.“ Jeder Bürger könne bis zu 12 Jahre ins Zuchthaus gesteckt werden, „und zwar für Dinge, die jeder tut“. Im Nachwort zu ihrem Briefwechsel teilte Wolf mit, Fühmann hätte sie mehrmals ermahnt, sich „einen inneren Vorrat an erzählbaren Geschichten“ anzulegen, den man brauche, um im Lageralltag zu überleben; denn die nächste Zäsur würden sie alle im Lager erleben. 

Fühmann starb 1984. In den „Zweiundzwanzig Tagen“ ist zu lesen: „Die Vergangenheit zu bewältigen heißt, die Frage nach jeder Möglichkeit und dem Äußersten zu stellen.“ Fragen wir also: Welche äußersten Möglichkeiten sind vorstellbar im aktuellen Staat?

Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Hinstorff Verlag, Rostock 1999, gebunden, 224 Seiten, 15,50 Euro

Uwe Wittstock: Franz Fühmann. Wandlung ohne Ende. Eine Biografie. Hinstorff Verlag, Rostock 2021, broschiert, 128 Seiten, 16 Euro

Foto: DDR-Schriftsteller Franz Fühmann (1922–1984) im September 1976 an seinem Arbeitsplatz in Märkisch-Buchholz: „Der Begriff der Legalität ist liquidiert“ (aus einem Brief an Christa Wolf)