© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Zeitschriftenkritik: Anbruch
Den Zeitläuften entfliehen
Werner Olles

Das zweimal jährlich herausgegebene unabhängige „Magazin für Kultur & Künftiges“ Anbruch beschäftigt sich in seiner vierten Ausgabe mit dem „Zeitlosen“. Jenseits des staatlich subventionierten Kulturbetriebs blüht im Garten der Künste und Kulturen so mancherlei in den Dimensionen des Zeitlichen und der Zeitlosigkeit. Oft sind es unerwartete Begegnungen: philosophische Gedanken über die Zeit und ob man ihr entfliehen kann, gelungene Aphorismen, elementare Fragen des menschlichen Daseins, phantastische Träume, Utopien als Parodien des Mythos oder russische Altgläubige, die sich trotz langer Verfolgung seit Jahrhunderten jeglichen Reformen und Neuerungen entziehen und an der Tradition festhalten.

So beschreibt Michael Völkel in seinem Porträt jene seit 1667 bestehende Gruppe von orthodoxen Gläubigen, für die die Identität zwischen Inhalt und Form des Glaubens und die liturgischen Handlungen „vollzogene Theologie“ darstellen, die „Körper, Seele und Geist beansprucht und in Einklang bringt.“ Daß der Glaube durch den Leib geht, wird neben den Gesängen an den unzähligen Kreuzzeichen, Verbeugungen, Wiederholungen, am Küssen der Ikonen und am stundenlangen Stehen während des Gottesdienstes deutlich. Hartnäckig halten die Altgläubigen an den überlieferten Formen fest und lehnen das Reformwerk aus dem 17. Jahrhundert vehement ab. Sie leben zurückgezogen in den Weiten Sibiriens, am Rande Moskaus, im Baltikum, in Rumänien und in abgelegenen Gebieten Nordamerikas. Sie nehmen eine unbeugsame Haltung ein, und dies seit den Siegen des Moskauer Großfürstentums über die muslimischen Reitervölker der Goldenen Horde, jener erfolgreichen ersten christlichen Reconquista. Neben dem Rom an Tiber und am Bosporus entstand so in Moskau das Dritte Rom als Leuchte der wahren Kirche: „Keine Macht der Welt könnte sich ihrer bemächtigen.“

Im Gepräch mit Herausgeber Tano Gerke gewährt der Soziologe Lorenz Jäger, Autor des Buches „Heidegger. Ein deutsches Leben“, Einblicke in das Verhältnis von Philosophie und Dichtung, Bodenständigkeit und Kosmopolitik. Heidegger sei immer landschafts- und heimatverbunden gewesen, erst in den 1960er Jahren habe seine Isolation begonnen, die mit dem damaligen „Gezeitenwechsel“ zusammenhing. Doch da die Technokratisierung ihren Zenit noch lange nicht erreicht habe, werde Heidegger uns erhalten bleiben.

In Arne Kolbs Aphorismen taumelt die Menschheit durch die Moderne, hinter der unausweichlich der Abgrund lauert; es ist der unbeteiligte Blick eines souveränen Geistes. Ein Beispiel: „Der Wissenschaftler weiß, daß er mit Theorie hantiert, aber der Laie glaubt, es seien Wahrheiten.“ 

Kontakt: Tano Gerke, Postfach 350332, 04165 Leipzig. Das Einzelheft kostet 10 Euro, ein Jahresabo 20 Euro.

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