© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

CD-Kritik: Swjatoslaw Richter
Zerrissener Riese
Jens Knorr

Wer den Mythen nachspüren will, die sich um Swjatoslaw Richter ranken, der suche weniger in den unzähligen Aufnahmen von nicht immer höchster künstlerischer Qualität, die seit seinem späten Debüt in der „freien“ Welt, 1960 in der Carnegie Hall, gemacht worden sind. Der suche vielmehr in Konzertmitschnitten und Studioaufnahmen aus der Zeit, als der Pianist rußlanddeutscher Abstammung nur in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten auftreten durfte. Vorliegende 13 CDs mit teils bisher unveröffentlichten Studio- und Konzertaufnahmen russischer Klavierkompositionen, die Richters Kunst zwischen 1946 und 1963 dokumentieren, gehen darüber noch weit hinaus.

Als einen „zerrissenen Riesen“ hat Joachim Kaiser den Pianisten beschrieben. Hier ist zu hören, was den Riesen zerriß. Tschaikowskis zwanghaft bekennender Großen G-Dur-Sonate leuchtet Richter zweimal erbarmungslos heim (1949 und 1956). Das b-Moll-Konzert bringt er ungebändigt unter Iwanow (1950), gebändigt unter Karajan (1962). Scriabins irre Sonaten reizt er irrsinnig aus. Dem wetterwendisch durchtriebenen Prokofjew gibt er Festigkeit, dem gehetzten Schostakowitsch Klassizität. Wer bisher hat Richter als Begleiter seiner Gefährtin, der Sopranistin Nina Dorliak, in Liedern von Glinka, Dargomischki und in Mussorgskis Zyklus „Kinderstube“ gekannt? 

Die Geschichte der russischen Musik lesen und spielen, das hieß für Richter, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.

Swjatoslaw Richter spielt russische Komponisten Profil Edition Günter Hänssler 2021  www.haensslerprofil.de