© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Der Alte und die Polin
Kino: Der Film „Wanda, mein Wunder“ behandelt auf unorthodoxe Weise das heikle Thema der häuslichen Pflege
Dietmar Mehrens

Es beginnt wie ein Reklamefilm des Gesundheitsministeriums zum Thema Pflegefachkräfte aus dem EU-Ausland. Wir sehen singende Polinnen in einem Bus aus dem Nachbarland. In einem malerischen Ort am Zürichsee steigt die junge Wanda (Agnieszka Grochowska) aus und wird vom Sohn der Familie Wegmeister-Gloor fröhlich in Empfang genommen. Sogleich macht sich Wanda beflissen an die Arbeit. Vom offenbar durch einen Schlaganfall lahmgelegten Familienpatriarchen Josef Wegmeister-Gloor (André Jung) ist sie schon schmerzlich vermißt und entsprechend sehnsüchtig erwartet worden. Außerdem ist sie Mädchen für alles im Haushalt.

Den ersten Riß bekommt die kampagnentaugliche Pflegekraft-Fassade, als Wanda mit Josefs Ehefrau Elsa (Marthe Keller) knallhart um die Bezahlung für weitere Aufgaben feilscht. Und als sie in der Nacht aufsteht, um Josef eine sexuelle Sonderdienstleistung zu gewähren, ist der Pflegefachkraftreport endgültig zu einem Seelenverwandten dessen mutiert, was der französische Meisterregisseur Claude Chabrol in seinen besten Jahren inszeniert hat: Filme mit einer Breitseite bissiger Verachtung für den diskreten Charme der Bourgeoisie. 

In überalterten Gesellschaften trifft das Thema offenbar einen Nerv

Chabrol porträtierte mit Vorliebe Familien, in denen hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit moralische Verwahrlosung, Perversion, Intrigen und Mordlust lauerten. Von Mordlust kann hier keine Rede sein. Die Schweizer Regisseurin Bettina Oberli setzt statt dessen lieber ein paar komische Akzente, die zunehmend in Sarkasmus umschlagen. In drei Kapiteln führt sie in ihrem sich immer mehr zur Groteske steigernden Spielfilm eine Demontage zeitgenössischen bürgerlichen Lebens vor. Als Wanda schwanger wird, brechen latent schwelende Konflikte offen aus. 

Die hierzulande durch die Stendhal-Verfilmung „Die Kartause von Parma“ (1982 als Sechsteiler ausgestrahlt im ZDF) in der Rolle der Gina einem größeren Publikum bekannt gewordene, heute 77jährige Marthe Keller ragt als Hausherrin aus einem starken Ensemble heraus, zu dem außerdem Birgit Minichmayr als notorisch nörgelige Tochter Sophie und Jacob Matschenz als Sohn Gregor gehören. Die solide Ensembleleistung und der immer wieder in überraschenden Pointen sich manifestierende Witz lassen darüber hinwegsehen, daß Oberlis Film optisch nicht über Fernsehspielniveau hinauskommt. Haus mit Garten – das ist als Kulisse für ein großes Kinoerlebnis schlicht zu bescheiden.

Die Regisseurin hat sich dafür erzählerisch Freiheiten genommen, die ihr eine Fernsehfilmredaktion nicht unbedingt eingeräumt hätte, jedenfalls nicht klaglos. Oberli mag das Unorthodoxe: Mit ihrem Film „Die Herbstzeitlosen“ über zwei Seniorinnen, die in einem Schweizer Ort einen Laden für Frauenunterwäsche eröffnen, landete die gebürtige Interlakenerin 2006 einen riesigen Überraschungserfolg. Zuweilen irritierend ist Oberlis Spiel mit Erwartungen. Lange Zeit weiß der Zuschauer auch bei „Wanda, mein Wunder“ nicht, worauf er sich hier eingelassen hat.

Vermutlich ist das der Grund dafür, daß sich ihre Filmsatire, ähnlich wie die schräge Vater-Tochter-Komödie „Toni Erdmann“ (2016) ihrer Kollegin Maren Ade, den Respekt des gehobenen Festival-Publikums erworben hat. Jedenfalls lief „Wanda, mein Wunder“ erfolgreich auf gleich mehreren internationalen Filmfestspielen, bekam eine Nominierung für den Schweizer Filmpreis und wurde im kanadischen Victoria sogar als bester Film ausgezeichnet. Das brisante und hochaktuelle Thema der häuslichen Pflege hat in den dekadenten und überalterten Gesellschaften des Westens offenbar einen Nerv getroffen. 

Wer über die eine oder andere Geschmacklosigkeit hinwegsehen kann und sich jenseits ausgetretener Pfade wohler fühlt als auf den Pisten, auf die die erfahrenen Meister der Reproduktionskunst mit Vorliebe führen (zum Beispiel Sönke Wortmann mit der für Frühjahr 2022 angekündigten Komödie „Der Nachname“), der könnte in „Wanda, mein Wunder“ zwar nicht sein blaues Wunder erleben, wohl aber die Basis finden für weiterführende Gespräche zu einem Thema, das viele betrifft oder in absehbarer Zeit betreffen wird.

Kinostart ist am 13. Januar 2022

 www.x-verleih.de

Foto: Familienpatriarch Josef (André Jung) und seine Pflegerin Wanda (Agnieszka Grochowska)