© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Den Menschen zur Erde zurückführen
Endlich einmal sind nicht alle Scheinwerfer auf den Dichterfürsten gerichtet: Stefan Bollmann rückt den Naturforscher ins Zentrum einer neuen Biographie Johann Wolfgang von Goethes
Dirk Glaser

In dem Einakter „Goethe“ (1908) des Wiener Kulturhistorikers, Kabarettisten und Bonvivants Egon Friedell (1878–1938) verwandelt sich der Dichterfürst in den Kandidaten Züst, um an dessen Stelle eine Prüfung über „Leben und Schaffen Goethes“ zu bestehen. Nach furiosem Auftakt, erinnerungsselig alle Fragen zu seiner Kindheit locker beantwortend, gerät der Genius jedoch mehr und mehr ins Schlingern, als es um präzise Entstehungszeiten und „innere Gründe“ für markante Arbeiten wie „Hermann und Dorothea“ oder „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre“ geht. Schließlich mitleidig ihm eine letzte Chance bietend, wird der schon fast Durchgefallene mit höhnischem Unterton gefragt: „Wissen Sie vielleicht zufällig, was Goethes Hauptwerk war?“ Und „stolz“ pariert Goethe-Züst in schönstem „frankfortischen“ Dialekt: „No, die ‘Farwelehr’!“ Worauf wieherndes Gelächter ausbricht.

Eine tiefe Zäsur in der Rezeptionsgeschichte

Tatsächlich und entgegen der vom wilhelminischen Bildungsbürgertum gierig aufgesaugten Germanistenlegende vom allem Irdischen entrückten Olympier, die Friedells Einakter auf die Schippe nimmt, hielt Goethe nicht den „Faust“, sondern die 1810 publizierte monumentale Untersuchung „Zur Farbenlehre“ für sein Hauptwerk. Mit über 1.000 Seiten und vielen bunten Tafeln ist ausgerechnet diese naturwissenschaftliche, gegen Isaac Newtons Optik im besonderen und den abstrakten Reduktionismus der modernen Physik im allgemeinen wütende Arbeit zur Chromatik zugleich die umfangreichste seines ozeanischen Œuvres. „Die Mühe eines halben Lebens“, so erzählt er Eckermann, „habe ich hineingesteckt, aber es gereut mich keineswegs. Ich hätte vielleicht ein halb Dutzend Trauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, und dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden.“

Die Nachwelt war da anderer Ansicht. Darin bestärkt durch den Physiologen Emil du Bois-Reymond, neben Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz eine der hellsten naturwissenschaftlichen Leuchten der Berliner Universität. In einer im Oktober 1882 gehaltenen Rektoratsrede zum Thema „Goethe und kein Ende“ legte der als Polemiker gefürchtete Gelehrte fest, daß Goethe zwar als das unbestreitbar „größte poetische Talent der Neuzeit“ zu gelten habe, aber seine „Farbenlehre trotz den leidenschaftlichen Bemühungen eines langen Lebens, die totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten“ sei. 

Von diesem verächtlichen Verdikt war es noch sehr weit bis zu dem Urteil, auf dem jetzt Stefan Bollmanns Goethe-Biographie fußt: „Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß Deutschlands größter Dichter Naturwissenschaftler war, nicht auch und nicht zufällig, sondern aus innerem Antrieb und aus Überzeugung.“ Der bisher schwergewichtigste Beitrag zur Beförderung dieses Gewöhnungsprozesses liegt mit Bollmanns faszinierend „dichter Beschreibung“ des Naturforschers Goethe nunmehr vor. Diese liest sich zwar auch wie eine meisterliche Synthese aus einigen hundert der erst seit den 1930ern, nachdem Gottfried Benns berauschender Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ (1932) Du Bois-Reymonds Bann gebrochen hatte, allmählich produzierten Spezialstudien, fesselt jedoch in erster Linie, weil sie ihre Deutungen frisch aus den „Quellen“, den elf Text-Bänden der Leopoldina-Ausgabe der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes schöpft. Und dabei keinen Moment in ermüdende Fachsimpelei abgleitet. Was um so mehr zu bewundern ist, als der über Thomas Mann promovierte Autor, Jahrgang 1958, von Haus aus kein Naturwissenschaftler ist und doch, oder vielleicht gerade deswegen, den im Spannungsfeld zweier Wissenschaftskulturen liegenden Stoff souverän beherrscht.

Darum könnte Bollmanns kompendiöse Monographie eine tiefe Zäsur in der Rezeptionsgeschichte bewirken, wo seit den 1890ern das fortan immergrüne Genre der „Goethe-Biographie“ den Buchmarkt dominiert. Jüngst bereichert von Rüdiger Safranski um einen in dieser Disziplin obligatorischen 700-Seiten-Ziegelstein („Goethe. Kunstwerk des Lebens“, 2013).

Aber jedes solcher mitunter sogar dreibändig ausufernden Epen über den Weimarer Weisen präsentiert eigentlich und bestenfalls nur den halben Goethe, weil die Darstellung des Dichters regelmäßig die des Naturforschers überschattet. So berücksichtigt Safranski, wie alle seine Vorläufer, seit Albert Bielschowskys „Goethe. Sein Leben und seine Werke“ (1895), dem „Hausbuch der Goethekenntnis und des Goetheerlebnisses für das deutsche Bürgertum einer ganzen Generation“ (Karl Robert Mandelkow), die naturwissenschaftlichen Passionen lediglich en passant und gönnt der „Farbenlehre“ gerade mal ein paar dürftige Seiten. Um dann ausführlich die gleichzeitig entstandenen „Wahlverwandtschaften“ zu interpretieren und sie als romanhafte Gestaltung der „Chemie menschlicher Beziehungen“ und „Physik der Geschlechterliebe“ lediglich  linker Hand mit Goethes Naturanschauung zu verquicken. Verglichen damit vermitteln Bollmanns tiefschürfende, gleichwohl von virtuoser Erzählkunst zeugende Analysen der Beiträge, die Goethe zur Geologie, Mineralogie, Geophysik, Morphologie, Anatomie, Botanik und zur Witterungslehre, wie die „Klimaforschung“ im Status nascendi damals hieß, geleistet hat, ein revolutionär neues Goethe-Bild. 

Der Biograph geht dafür streng chronologisch vor und schildert, wie das zunächst lyrisch verarbeitete Naturerleben des jungen Goethe systematischer Naturbeobachtung weicht, nachdem er im Kleinstaat Sachsen-Weimar ab 1776 als Minister auch für den Bergbau verantwortlich ist. „Ich führe mein Leben in Klüfften, Höhlen, Wäldern, bey den Unterirdischen und weide mich aus in Gottes Welt“, berichtet er tatenfroh aus Ilmenau, wo ein aufgelassenes Bergwerk wieder in Betrieb genommen werden soll. Die Amtspflichten ziehen ihn rasch in jene „Atmosphäre der Diesseitigkeit“ hinein, in der im Aufklärungszeitalter die „Interpretation der Welt aus sich selber“ (Benn) gedeiht. Die aus der „Enge und von den Zumutungen der Verstandeswelt“ befreiende Natur wird ihm zur maßgeblichen Instanz erfahrungsgesättigter  Welterklärung, die sich von Offenbarungs- und Glaubenswahrheiten zu emanzipieren beginnt, um den aufs Jenseits fixierten vormodernen Menschen auf die Erde zurückzuführen.

Naturforschung als strenge Erzieherin zum Realitätssinn

Doch die weite Horizonte „großer Weltsicht“ eröffnende Naturforschung, die sich auch für den Staatsmann und Politiker Goethe als strenge Erzieherin zum Realitätssinn bewährt, übte auf die meisten seiner Landsleute nie die gleiche Prägekraft aus wie auf ihn selbst. „Unsere deutschen Philosophen nehmen sich aus“, klagte er resigniert kurz vor seinem Tod 1832, „als ob sie dreißig Jahre nicht vor die Tür gekommen wären, um die Welt zu beobachten, beschäftigen sich vielmehr mit dem Wiederkäuen ihrer eigenen Ideen“, aus denen „nichts als Dunst“ hervorgehe. In Zeitläuften wahrlich kein veralteter Befund, in denen ein Jürgen Habermas mit dem surrealen Konzept, das Politik den Regeln des „herrschaftsfreien Diskurses“ unterwerfen will, zur „philosophischen Weltmacht“  aufsteigen konnte. 

Bei aller Begeisterung fürs Beobachten, Messen und Experimentieren ist, was Bollmann schärfer hätte konturieren müssen, Goethes Verständnis von Naturwissenschaft jedoch meilenweit entfernt von jenem, das sie zum Instrument brutaler Ausbeutung der Natur, der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen werden ließ. So wie es Goethe als Zeitgenosse der kapitalistischen Frühindustrialisierung schon wahrnahm und in „Faust II“ (1833) als Schreckbild gestaltet hat. Ob, wie der Germanist Jost Hermand meint („Grüne Klassik“, 2016), Goethe deswegen als Vorläufer der neoliberalen bundesdeutschen Grünen zu vereinnahmen wäre, ist indes stark zu bezweifeln, da deren auf enthemmtes Wachstum setzende Katastrophenpolitik auf die Fortsetzung des Krieges gegen die Natur hinausläuft, nur mit anderen Mitteln, mit Windturbinen und Sonnenkollektoren. Goethes Naturauffassung  entspringt vielmehr der breite Strom jener originär deutschen Fortschritts-, Technik- und Zivilisationskritik, der von der Romantik bis zum konservativen Anti-Globalismus der Gegenwart fließt.

Abgesehen von einem Hinweis auf Rudolf Steiner, den sich in diese Traditionslinie einfügenden Anthroposophen-Papst und „Apologeten alternativer Naturwissenschaft“, vermeidet Bollmann indes jede Bezugnahme auf diesen Rezeptionsstrang. Wohl weil er nicht an den Denker erinnern will, der lange vor ihm mit einer Goethe-Biographie (1912) den heute vergessenen „entscheidenden Markstein der Entdeckung des Naturforschers Goethe gesetzt hat“ (Mandelkow): Houston Stewart Chamberlain.

Stefan Bollmann: Der Atem der Welt. Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 650 Seiten, Abbildungen, 28 Euro

Fotos: William Turners Gemälde „Der Morgen nach der Sintflut“ mit dem Zusatz „Licht und Farbe (Goethes Theorie)“: „Wär nicht das Auge sonnenhaft,/ Wie könnten wir das Licht erblicken;/ lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,/ Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“ (Goethe in der Einleitung zu seiner Farbenlehre, 1810); Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832): Porträt von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein