© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Retro-Fernsehen
Streamingportale und TV-Sender bespielen gezielt die Kindheitserinnerungen der Zuschauer
Gil Barkei

Die kurze Wiederbelebung von „Wetten daß..?“, die Millionen Zuschauer nostalgisch in die Wohnzimmer der achtziger und neunziger Jahre zurückversetzt hat, war nur der vorläufige Höhepunkt einer Retro-Welle – und diese gewinnt seitdem an Tempo. 

Kurz nach Thomas Gottschalk feierte auch die Spiele-Show „Geh aufs Ganze“ mit Moderator Jörg Draeger nach knapp 20 Jahren ein Comeback bei Sat.1 und ließ Erinnerungen an die Hochzeit der Spieleformate von „Glücksrad“ bis „Familien-Duell“ bei den Privatsendern aufblitzen. Und auch „TV Total“ stand von den Toten auf – allerdings mit Sebastian Pufpaff als Ersatz für Stefan Raab.

Die Showsendungen folgen damit einem Trend, der bei Filmen und Serien ins Rollen gekommen ist. Neben Neuinszenierungen weit zurückliegender Kultstreifen wie „Sisi“ (JF 52/21-1/22) oder „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (beides RTL+) knüpfen zahlreiche Produktionen an Werke aus den Achtzigern und Neunzigern an. „Faking Hitler“ von RTL+ greift den 1992-Kinoerfolg „Schtonk!“ auf und setzt den Stern-Skandal um gefälschte Hitler-Tagebücher in Szene. 

Netflix adaptiert mit „Cobra Kai“ den Achtziger-Kultfilm „Karate Kid“. Der mittlerweile 60jährige Komiker Eddie Murphy lieferte für Amazon Prime einen zweiten Teil des Kassenschlagers „Der Prinz aus Zamunda“ aus dem Jahr 1988. Und auch „Sex and the City“ bekam 15 Jahre nach dem Serienende eine neue Staffel.

Parallel zu diesen neuen Produktionen erfreuen sich zahlreiche Klassiker der vergangenen 40 Jahre großer Beliebtheit in Mediatheken und auf Streamingportalen. So laufen bei Netflix beispielsweise alle Folgen „Monaco Franze“ und der extralangen Serienversion von „Das Boot“. Aus den USA locken Dauerbrenner wie „Der Prinz von Bel-Air“, „Friends“ oder „Seinfeld“ schwelgende „Ach damals!“-Zuschauer. 

Hinzu kommen zahlreiche Dokumentationen über alte Videospiele („High Score“), Kinoblockbuster „unserer Kinderjahre“ und einstige Sportidole wie Boris Becker, Michael Jordan, Maradona oder Roberto Baggio. Amazon möchte darüber hinaus mit Kult-Zeichentrickfilmen wie„Peanuts“, „Tim & Struppi“ oder „Den tollen Fußballstars“ punkten.

Helden und Serien der Achtziger und Neunziger

Neben Nostalgie steckt auch die Flucht vor momentanen Eskalationen hinter dieser Entwicklung. „Es hat auf jeden Fall mit den aktuellen Krisen, der Weltlage, politischer Unsicherheit und vor allem Covid-19 zu tun“, sagt Medienpsychologe Jo Groebel gegenüber Watson. „Man sehnt sich nach der vermeintlich guten alten Zeit, nach dem Gemeinschaftserlebnis vor dem Bildschirm, das wieder alle zusammenbringt.“ Andere frisch entworfene Handlungen werden daher absichtlich in die achtziger und neunziger Dekaden verlegt. Netflix’ Mysteryserie „Stranger Things“ wurde so zum Hit; die deutsche Produktion „Dark“ ebenfalls. Amazon hat den bei RTL im linearen TV durchgefallenen Mehrteiler „Deutschland 83“ übernommen und daraus mit „Deutschland 86“ und „Deutschland 89“ eine erfolgreiche Eigenmarke weiterentwickelt.

Mit der Vorgehensweise soll die anvisierte Zielgruppe der 30- bis 40jährigen angesprochen werden, die mit den damaligen Serien, Filmen und Shows aufgewachsen, sprich emotional erreichbar ist – und zugleich als konsumfreudig, digital versiert und mittlerweile zahlungskräftig gilt.

Daß viele sogenannte Spin-Offs ihren gereiften Vorlagen jedoch nicht das Wasser reichen können, zeigen neben unzähligen, der Profitgier geschuldeten „Star Wars“-Weiterdrehen zeitgeistschwangere Neuauflagen wie die Sky-ZDF-Kooperation „Das Boot“ oder der Netflix-Sechsteiler „Wir sind die Welle“. Humorvoller, unterhaltsamer und zu empfehlen sind die alten Folgen der „Harald Schmidt Show“ auf Youtube – Fernsehen, wie es heutzutage aufgrund des „Haltungs“-Fetisch nicht mehr möglich ist.

Doch gerade das Überangebot an immer wieder aufgewärmtem Filmstoff von „Jurassic World“ (2015), „Jurassic World: Das gefallene Königreich“ (2018), „Jurassic World: Ein neues Zeitalter“ (2022) bis „Ghostbusters“ (2016) und „Ghostbusters: Legacy“ (2021) ruft scharfe Kritik hervor: Den Drehbuchautoren und Filmemachern scheinen die Ideen auszugehen – dies bietet neuen jungen Produzenten eine Chance.

Foto: Altbekanntes neu aufgelegt (von links): Der Kultfilm „Das Boot“, Stefan Raabs Comedy-Show „TV Total“ und die „Karate Kid“-Adaption „Cobra Kai“