© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Was zum Teufel ist eigentlich hierzulande los? Eine Philippika zum Jahresbeginn
Eine erschütternde Bilanz
Günter Scholdt

Die Jahreswechsel-Bilanz über den Zustand unserer postdemokratischen Republik kann erschüttern. Gepeitscht und in Panik versetzt durch linksgrünen Meinungs- und Tugendterror, Utopismus, Verbotswahn, Klima-, Corona-, Gender-, BLM- und Cancel-Culture-Agenden sowie tief in nationale Belange eingreifende eurokratische Anmaßung, dümpelt ein Land dahin, das noch vor kurzem der Welt wirtschaftlich, technologisch und sozial als Vorbild galt. Alternativlosigkeit als Herrschaftsideologie vereinfacht Sach- zu Moralfragen. Ein „pragmatischer“ Regierungsstil (samt verdeckt finanzierter Straßengewalt) läßt Volkssouveränität zur Phrase schrumpfen. Das Demonstrationsrecht ist kastriert. Polizeiexzesse finden in der Öffentlichkeit keine Resonanz mehr. Mediale Aufmerksamkeit beanspruchen nur mehr Propagandadelikte scheinbarer „Verfassungsfeinde“, die zur Staatsgefährdung aufgebauscht werden.

Wir erdulden einen geistigen Belagerungszustand, mit dem die politmediale Klasse gegen Meinungsminderheiten emotional mobilisiert. Als Exekutive waltet ein Kartell zunehmend konturloser Parteien, die sich den Löwenanteil öffentlicher Pfründen und Kompetenzen sichern, während die einzig nennenswerte Opposition mit fast allen Mitteln bekämpft, diffamiert, ja kriminalisiert wird. Man stützt sich auf rückhaltlos konforme Staatsmedien, gemästet durch drakonisch eingetriebene „Demokratieabgaben“. Auch die angeblich „freien“ Medien leisten vorauseilend Gehorsam, verlockt durch milde EU- oder NGO-Gaben zur Bewahrung – welche Ironie! – der „Vielfalt“. Der Spiegel steht mit etlichen Millionen auf Gates’ Lohnliste, vermutlich zur Förderung des „investigativen“ Journalismus. Wer wie Julian Reichelt Anstoß erregt, wird per Hubertus-Knabe-Schema rausgemobbt. Alternative „Falschmeiner“ in sozialen Medien provozieren wahre Löschorgien. Zu den ersten Taten der neuen Innenministerin Nancy Faeser (SPD) gehört der Druck auf Telegram.

Krawallstudenten bestimmen, was an Unis gelehrt und wer eingeladen werden darf. Eine kritische Öffentlichkeit außerhalb der sich vor allem im Netz artikulierenden rechtsalternativen, libertären oder Querdenker-Szene sucht man meist vergebens. Intellektuelle zehren zwar vom in Generationen erworbenen Außenseiter-Image, doch marschieren lieber als Staatskünstler und -schreiber im Gleichschritt. Sonst werden sie schnellstens ausgefiltert wie der skrupulöse SWR-Redakteur Ole Skambraks. Unabhängige Satiriker (etwa Teilnehmer an „#allesdichtmachen“) hat man derart bedrängt, daß etliche umgehend widerriefen. Dennoch zählt diese Initiative wie ihre Nachfolgerin „#allesaufdentisch“ zu den raren öffentlichen Bekundungen von Mut, die in Jahrzehnten vielleicht einmal eine zu pauschale Intellektuellen-Bewältigung relativiert. Lisa Fitz natürlich nicht zu vergessen.

Der Rechtsstaat röchelt asthmatisch, wo ein Prinzip nach dem andern verletzt wird: von der Preisgabe des nationalen gegenüber EU-Recht und der unlegitimierten Masseneinwanderung über die Erosion der Meinungsfreiheit, die Erbeutung des Staates durch Parteien samt Patronage bis zur Kolonisierung des Rundfunks. Doch ein zunehmend aus Parteikreisen rekrutiertes Bundesverfassungsgericht wehrt dem nicht, sondern leitet eher den „Umbau“ des Rechtsstaates ein, wie der Münsteraner Ordinarius für Öffentliches Recht Oliver Lepsius (FAZ vom 10. Dezember 2021) diagnostizierte. Die Substanz vermeintlich unverletzlicher Grundrechte höhlt man in Schnellsitzungen weitgehend aus, sobald medizinische oder ideologische Viren dies zu erfordern scheinen. Bereits eine Klimatheorie reicht dafür. Ein Weimarer Richter, der in Sachen Maskentragen unerwünscht urteilte, erhält Polizeibesuch zu Hause mit Handy-Konfiskation. Selbst diese obszöne Läsion der Gewaltenteilung bleibt ohne öffentlichen Aufschrei.

Gehört es doch inzwischen wohl zur Staatsraison, die verbliebene Machtkonkurrenz juristisch, zivilgesellschaftlich und am besten nachrichtendienstlich zu schädigen. Mainstreamparteien verteilen Posten nach Gutsherrnart, verweigern der AfD das ihr zustehende Vizepräsidentenamt oder Ausschußstellen im Bundestag. Rundfunkräte imitieren die Praxis. Massiver Wahlbetrug wie zuletzt in Berlin erregt, solange das Ergebnis stimmt, höchstens lokal. Und da es dem Establishment vornehmlich um Akklamation geht, mögen künftig im Wahlakt auch 16jährige ihre außerordentliche Sachkunde und Lebenserfahrung einbringen. Ein Hoch auf die naturgegebene Politkompetenz der Gretas, Luisas, unsere postpubertären modischen Trotzköpfchen mit Drohungen wie: „How dare you …“ und „I want you to panic!“

Unantastbarkeit von Abgeordneten als Herz freier Debatten war gestern. Wegen Kinkerlitzchen angeblich unkorrekter Rede hebt man die Immunität von Oppositionsführern auf. Korrespondierende Hausdurchsuchungen und Beschlagnahme privater Datenträger standen früher für Diktatur; wir haben aufgeholt. Innenminister begrenzen durch weisungsgebundene Staatsanwälte und „Verfassungsschützer“ systematisch den Raum dessen, was der politische Gegner äußern darf. Und die Bevölkerung schweigt im von Umfragen belegten Bewußtsein, daß bei uns über vieles eben nicht frei gesprochen werden dürfe. Die neue Bundesregierung hält Deutschlandverachtung für ministrabel. Und höchste Ämter unterliegen dem Peter-Prinzip, wonach jede(r) so lange befördert wird, bis das Stadium der Inkompetenz erreicht wurde.

Zu Lasten unseres Wirtschaftsstandorts ächten Ideologen CO2, Atomkraft und Nord Stream 2 gemeinsam. Ein weiterer Politschrei betrifft den Impfzwang, nachdem bereits Frankreich und Österreich dem Herrschaftsvorbild China huldigten. Frühere Versprechen von Merkel, Scholz, Söder, Lindner, Lauterbach und Co. sind Makulatur wie die rechtlich gebotene Schuldenbremse. Auf der Website des Gesundheitsministeriums figurierte noch kürzlich Impfpflicht unter „Fake News“. Bauernschlau fischten der FDP-Grande Wolfgang Kubicki oder der „Freie Wähler“-Chef Hubert Aiwanger in fremden Wählergründen. Doch nach dem Urnengang schloß man schnellstens die Koalitionsreihen, so sehr es auch bei einigen rumort. Von Ulbricht („Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“) und Juncker („Wenn es ernst wird, muß man lügen“) lernen heißt siegen lernen. Zur Schamlosigkeit paßt die Primitivität, mit der die Impfkampagne, nachdem ihre großmäuligen Versprechen unerfüllt blieben, sich Sündenböcke sucht: „Pandemie der Ungeimpften“.

Lächerlichkeit tötete in der deutschen Politik bekanntlich noch nie. Sonst wäre die „Völkerrechtlerin“ Annalena B. mit ihren plapperhaft-kuriosen Versprechern und Kurzschlüssen niemals über den Vorsitz eines Kreistags hinausgelangt. Nur in Frankreich, hörte ich, kostete es einst den trinkfesten Ministerpräsidenten Mendès France den Wahlsieg, als er sich für eine Gesundheitskampagne mit einem Milchglas fotografieren ließ. Hierzulande applaudiert man selbst Berufsrasern wie Vettel, wenn der klimaschützend für Tempo 100 auf Autobahnen wirbt. Und die Herren Kretschmann und Söder plagiieren mit ihrem „Die Impfpflicht schützt die Freiheit“ unkritisiert Orwells „1984“. Gut, daß sie wenigstens nicht „Impfen macht frei“ zum Motto erkoren.

Agitatorische Enthemmung führt zur gänzlichen Sinnentleerung von Worten. „Toleranz“ heißt heute Zustimmungszwang. Der Weltärzteguru Frank Ulrich Montgomery beschwört in grotesker Verdrehung der Machtverhältnisse eine „Tyrannei der Ungeimpften“. „Qualitätsmedien“ verbreiten dies ungerührt in wachsender Neigung, mehrheitlich Debile zu bedienen. Dies gilt besonders für Kommentare über „Rechte“ respektive den Lieblingsunhold Donald Trump. Als der auf den Beschluß „woker“ Netzriesen hin, ihm jeglichen Zugang zu sperren, mit Plänen für einen eigenen Kurznachrichtendienst reagierte, titelte die FAZ: „Donald Trump pachtet die Wahrheit.“

Zurück zu Corona samt EU-Präsidentin, die uns nun schon im Turnus von drei bis sechs Monaten boostern will: Vergessen wir alles Irritierende über Pharmalobbyismus (Pfizer sponserte den SPD-Parteitag), „Neue Weltordnung“ oder die EU-Schuldenunion, so lauten die medizinischen Kernfragen: Verhilft unser Corona-Management tatsächlich zum Sieg über das Virus? Wie hoch fallen Gegenrechnungen aus: sonstige gesundheitliche, psychische und sportmedizinische Folgen einer alles übertönenden Angstkampagne und Kontaktsperre besonders bei Kindern und Alten? In welchem Verhältnis steht das in seiner Effektivität weit überschätzte Impfen zu den medial unterbelichteten Nebenwirkungen? Taugt diese ruinöse Krisenbewältigung überhaupt als Modell, wo im globalen Zeitalter vergleichbare Seuchen doch alle Dekaden drohen?

Und politisch: Ignoriert diese Roßkur nicht unzulässig die gigantischen ökonomischen, sozialen, bildungsmäßigen und nicht zuletzt rechtsstaatlichen Verwerfungen? Durfte man selbst in bester Absicht diese Lawine zivilgesellschaftlicher Denunziation auslösen? Gefährden wir durch unsere von Einschüchterung und Zensur geprägte Diskussions- und Wissenschaftskultur auf Dauer nicht mehr, als wir medizinisch gewinnen mögen? Wie glaubwürdig ist ein Staat, der eklatante fachlich-administrative Ungereimtheiten durch Verbote kompensiert? Wie bedrohlich eine Herrschaft, deren umfassender „Fürsorge“-Anspruch gegenüber jeglichem Übel gleichzeitig jeden zum potentiellen Gefährder aller erklärt?

Seien wir uns bewußt: Spätestens diese Ermächtigung überschreitet eine rote Linie, die schlimmste totalitäre Kontrollwünsche entfesselt und besonders bei der ideologieanfälligen neuen Regierung den einzelnen aufs Abnicken technokratischer Entschlüsse beschränkt. Haben inzwischen (mehr als viele „Konservative“) sogar Alt-68er wie Oskar Lafontaine und Otto Schily ein besseres Gespür dafür, was Big Brothers Stunde geschlagen hat? Wenn trotz Rund-um-die-Uhr-Kampagne die persönliche Risikoabwägung gut jedes vierten immer noch gegen Impfen ausfällt, welches Demokratieverständnis offenbart die weitere Steigerung des Drucks, wo doch die staatlichen, beruflichen und finanziellen Daumenschrauben ohnehin engstens gezurrt sind? Gilt Solidarität nur gegenüber einer Mehrheit? Welche Herausforderung für wirklichen Haltungsjournalismus! Aber der „große Moment“ findet offenbar ein „kleines Geschlecht“.

War früher alles besser? Nicht alles. Politik und Medien gestatteten nie den herbeitheoretisierten „herrschaftsfreien Diskurs“. Auch vor Jahrzehnten dominierten parteiliche Schreiber. Doch der Wettbewerb zweier politischer Großlager verhinderte eine so reibungslose Medienkumpanei, wie sie heute nur in alternativen Nischen durchbrochen wird. Auch gab es in der Mitte noch eine kritische Masse jener Steher, die nicht erst nach ihrer Pensionierung Mut zeigen: Joachim Fest, Johannes Gross, Arnulf Baring, Peter Scholl-Latour, Gerhard Löwenthal, Theo Sommer, Sebastian Haffner, ja selbst Rudolf Augstein. Daß die im momentanen Konformitätssumpf genauso geplanscht hätten, ist mir unvorstellbar.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit („Es ist ein Skandal“, JF 28/19).

Foto: Theo Sommer, Sebastian Haffner, Gerhard Löwenthal, Peter Scholl-Latour, Johannes Gross, Arnulf Baring, Joachim Fest, Rudolf Augstein (v. l. n. r.): Früher gab es noch eine kritische Masse von publizistischen Stehern. „Daß die im momentanen Konformitätssumpf genauso geplanscht hätten, ist mir unvorstellbar.“