© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Nukleare Teilhabe im Visier
Was eine dreißig Jahre alte Dissertation eines maßgeblichen SPD-Politikers zur sicherheitspolitischen Konzeption der Ampelkoalition beitragen könnte
Peter Seidel

Seit den späten sechziger Jahren stehen sich in Deutschland zwei konträre sicherheitspolitische Konzepte gegenüber: die Vorstellung von „nuklearwaffenfreien Zonen“ und die Nato-Doktrin der „nuklearen Teilhabe“. Das eine Konzept will ohne, das andere mit Atomwaffen auskommen. Jetzt hat die neue Ampelkoalition einer deutschen nuklearen Teilhabe im Koalitionsvertrag zugestimmt, obwohl sowohl SPD wie FDP traditionell dagegen waren. Was bedeutet dies?     

Bereits im November 1969 hatte die sozialliberale Koalition auch unter dem Druck der USA dem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag zugestimmt, also dem Verzicht auf deutsche nukleare Bewaffnung. Als Trostpflaster bekam Bonn die Mitsprache bei Konsultationen und Planungen über nukleare Ziele der Nato in Friedenszeiten, die „nukleare Teilhabe“. Der außenpolitische Vordenker der SPD, Egon Bahr, bezeichnete diese 1984 als ein „Märchen für die nichtatomaren Kinder“. Sein Fazit: Zwischen Staaten mit Atombewaffnung und denen ohne existiere ein prinzipieller Unterschied, denn letztere würden nicht einmal über ihre eigene Existenz entscheiden: „Dies wird auf Dauer unerträglich. Diese Ungleichheit muß jedes Bündnis zerbrechen.“ Bahr setzte sich deshalb für „nuklearwaffenfreie Zonen“ in Mitteleuropa ein, er wollte die Militärbündnisse in West und Ost auflösen und durch ein gemeinsames, gesamteuropäisches Sicherheitssystem ersetzen.

Im engeren Sinne handelt es sich bei der nuklearen Teilhabe um amerikanische Atombomben in der Eifel, von deutschen Flugzeugen abzuwerfende Bomben, und um ihre Modernisierung, nicht nur der Flugzeuge, sondern auch der Bomben. Nach jahrelangem Widerstand hat die SPD jüngst der Beschaffung deutscher Flugzeuge dafür zugestimmt. Setzt also die SPD Aufgaben durch, zu denen die CDU nicht in der Lage war? Schließlich hatte die Bundesregierung 2009 bereits unter Kanzlerin Angela Merkel im Koalitionsvertrag mit der FDP vereinbart, „wir befürworten  (...) den Abzug der verbliebenen nuklearen Waffen aus Deutschland“. Umgesetzt wurde damals allerdings nichts. Wird dies so auch für das Bekenntnis der Ampel zur nuklearen Teilhabe gelten? Oder spekuliert die Koalition darauf, daß die Flugzeuge mindestens während der nächsten zehn Jahre sowieso nicht geliefert werden können, das Thema politisch also neutralisiert sei?

Haupttreiber bei der Positionierung der Sozialdemokraten gegen die nukleare Teilhabe ist deren Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Rolf Mützenich. Ein Vertreter des linken Flügels, der zuletzt bekannte konservativere SPD-Verteidigungspolitiker zum Rückzug bewegt hat, so daß er als Stichwortgeber in der Verteidigungspolitik in der SPD seitdem unangefochten sein dürfte. Zuletzt im Wahlkampf reagierte er im Oktober klar gegen das Bekenntnis der CDU-Bundesverteidigungsministerin zur nuklearen Nato-Doktrin der Abschreckung. Ihre Ausführungen seien „verantwortungslos“ und unterschieden sich nicht von Putins Drohungen. Doch wie erklärt sich dann Mützenichs fehlender Widerstand gegen die Vereinbarung der Ampel zur Erhaltung der nuklearen Teilhabe, wieso wurde er nicht Verteidigungsminister? Nur wegen einer Quotenfrau im Kabinett?

Rückstände in der britischen Radartechnik wurden aufgeholt

Die nukleare Teilhabe ist für Mützenich kein neues Thema, wie bereits der Titel seiner Promotionsschrift „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“ (Europäische Hochschulschriften, Band 181) zeigt, eine Schrift aus dem Jahre 1991, konzipiert in der Endphase des Friedenskampfes gegen die Nato-Nachrüstung. Dabei fällt auf, wie sehr er „die herrschende Logik der Abschreckung und nuklearem Gleichgewicht“ so wie Egon Bahr ablehnt, von „vermeintlichen Bedrohungen“ spricht und auf Diplomatie, „völkerrechtlich verbindliche“ Erklärungen, Vereinbarungen und ihre Einhaltung, auf Gemeinsamkeiten und Vertrauensbildung statt auf Gleichgewicht setzt. 

Mützenich befürwortet „ein internationalistisch-orientiertes Norm- und Regelwerk zur friedlichen Konfliktlösung“, in der Furcht vor allem vor einem „mit nuklearen Mitteln“ geführtem Krieg. Im Endeffekt würde dies allerdings auf Schadensbegrenzung im Krieg und nicht auf Friedenssicherung hinauslaufen. Denn in der „einen Welt“ kann es keine atomwaffenfreien Zonen geben: Nicht darauf kommt es an, wo Nuklearwaffen stationiert sind, sondern wo sie treffen können. Seit der Entwicklung von Interkontinentalraketen ist dies weltweit möglich. Was es gibt, sind Zonen und Staaten ohne nukleare Abschreckung, mit einer Sicherheit zweiter Klasse. Da hatte Egon Bahr durchaus recht. 

Nun könnten Ausführungen in einer wissenschaftlichen Arbeit vor dreißig Jahren eines, heutige politische Positionen etwas anderes sein. Denn: Was wurde beispielsweise aus der atomwaffenfreien Zone Ukraine? Nachdem sie in den neunziger Jahren ihre Nuklearwaffen an Rußland abgegeben hatte, hat Moskau zwar zusammen mit Großbritannien und den USA dem Land im Budapester Protokoll eine vertraglich vereinbarte völkerrechtliche Bestandsgarantie gegeben, die bei passender Gelegenheit dann allerdings das Papier nicht wert war, wie der Krieg in der Ostukraine und die Annexion der Krim zeigten. Ob Rußland sich mit der Ukraine angelegt hätte, hätte sie sich nicht nuklearwaffenfrei gemacht? Und wieso hat in Südkorea, einem Verbündeten der USA, die Diskussion darüber begonnen, seine U-Boote mit eigenen Atomraketen auszurüsten? 

Vor allem aber: Was, wenn die von Bahr und Mützenich unterstellten Gemeinsamkeiten sich eben nicht als „vermeintliche“ Bedrohungen und Gleichartigkeit herausstellen, sondern als klarer Gegensatz zu revisionistischen Mächten? Hier bleibt sich Mützenich dann treu und spricht heute angesichts der Bedrohung der Ukraine abstrakt von einer Eskalation von Drohungen und Gegendrohungen auf beiden Seiten, die es zu durchbrechen gelte. Seine Haltung könnte (nicht nur) in der SPD bald wieder mehrheitsfähiger werden als die „Strategie des Gleichgewichts“ und der Abschreckung ihres früheren Kanzlers Helmut Schmidt. Auch damals sah zunächst alles nach Kontinuität in der Sicherheitspolitik aus, bis sich die Partei dann der Nachrüstung verweigerte. 

Angesichts einer möglichen russischen Eskalation an der Ostgrenze der Nato könnte sich in Zukunft somit die Frage stellen: Wie reagieren, verfügte die Nato deutsche Flugzeuge mit US-Atombomben nach Polen? Würde Berlin dann den Konflikt in der Nato riskieren? Angesichts der atomaren Vorbehalte in der SPD, der Abneigung offenbar wohl einer Mehrheit der Deutschen, Verbündeten in einer Krise beizustehen? Sicher ist, bei der Beantwortung solcher Fragen dürfte Rolf Mützenich eine entscheidende Rolle spielen. Und er würde damit sicher nicht allein stehen.

Rolf Mützenich: Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik: Historische Erfahrungen, Rahmenbedingungen, Perspektiven. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1991, broschiert, 382 Seiten, antiquarisch

Foto: Demonstration gegen nuklare Raketen in Deutschland, Berlin-Kreuzberg 1983: In der „einen Welt“ kann es spätestens eit der Entwicklung von Interkontinentalraketen keine atomwaffenfreien Zonen geben