© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Geheimer Informant über die deutsche Forschung
Wissenschaftsspionage im Zweiten Weltkrieg: Der Journalist David Rennert über die wahren Hintergründe des „Oslo-Reports“
Jürgen W. Schmidt

Zu gut um wahr zu sein“, meinte man im britischen Geheimdienst MI-6, als man den Anfang November 1939 bei der britischen Botschaft in Norwegen eingegangenen, sogenannten „Oslo-Report“ studierte. Man hatte damals tatsächlich allen Grund im britischen Geheimdienst vorsichtig gegenüber dem ränkevollen deutschen Geheimdienst zu sein. Immerhin waren die beiden britischen Geheimdienstoffiziere Major Stevens und Hauptmann Best soeben direkt an der deutsch-niederländischen Grenze in eine Falle eines SS-Sonderkommandos geraten und mit großem Propagandagetöse (Venlo-Zwischenfall) nach Deutschland entführt worden. Von den Niederlanden aus spähten die zwei Geheimdienstmännen Deutschland mit Segen höchster britischer Politiker wie dem Premier Neville Chamberlain aus und versuchten daran mitzuwirkten, Adolf Hitler auszuschalten. Die Verhaftung von Stevens und Best war ein ebenso ein schwerer Schlag für den britischen Geheimdienst, dessen Arbeit in Westeuropa offenbart wurde, als auch für die Regierung der Niederlande, die das als neutrale Macht geduldet hatten. Immerhin nutze Hitler am 10. Mai 1940 diesen Vorfall als einen der Vorwände, in das Nachbarland einzumarschieren

Im „Oslo-Report“ waren in trockener, wissenschaftlicher Sprache elf aktuelle, zugleich technisch anspruchsvolle deutsche Rüstungsprojekte aufgeführt. Der anonyme Verfasser erläuterte dabei deren physikalisch-technische Grundprinzipien, etwaige Gegenmaßnahmen und hin wieder auch die Standorte der betreffenden deutschen Forschungseinrichtungen. Einiges war offenkundig falsch, wie etwa die riesigen Bauzahlen (bis zu 5.000 Stück monatlich) der modernen deutschen Bomber vom Typ Ju-88 oder die Angaben über ein riesiges deutsches Flugzeugmutterschiff in Kiel namens „Franken“. Die spannende Geschichte des „Oslo-Reports“ hat nun der österreichische Journalist und Historiker David Rennert vom Standard niedergeschrieben.

Rückstände in der britischen Radartechnik wurden aufgeholt

Gegen die anfänglichen Bedenken britischer MI-6-Offiziere erkannte der erst kürzlich im britischen Geheimdienst angestellte junge Physiker Reginald Victor Jones, daß auf jeden Fall die Angaben im „Oslo-Report“ über moderne funkgestützte Flugnavigationsverfahren für Bomber, über in Entwicklung befindliche Magnettorpedos, über funkgesteuerte Gleitbomben und deutsche Radarverfahren durchaus eine ernsthafte Beachtung verdienten. Jones machte deshalb persönlich den am 10. Mai 1940 zum Premierminister aufgestiegenen Winston Churchill auf das rüstungswissenschaftliche Potential in Deutschland aufmerksam. Churchill erwies sich als viel aufnahmebereiter und technikaffiner als sein diesbezüglich kaum beleckter deutscher Widerpart Hitler. Dank der Bemühungen von Jones konnten die auf dem Gebiet der Radartechnik hinter den deutschen Forschungsergebnissen zurückliegenden Briten ihre Rückstände aufholen und dank zentraler Planung und Lenkung Deutschland diesbezüglich schließlich weit überholen. 

Ebenso blieb der studierte Physiker Jones vom britischen Geheimdienst hartnäckig bezüglich der im „Oslo-Report“ erwähnten deutschen „Fernlenkgeschosse“, welche ein erster Hinweis auf die deutschen V1- und V2-Waffen waren. Obwohl führende britische Wissenschaftler damals nicht glauben wollten, daß Deutschland im Raketenbau schon so weit fortgeschritten sein sollte, erwies sich die Meinung von Jones letztlich als zutreffend. Britische Geheimdienste forschten Peenemünde und die deutsche V-Waffenentwicklungen aus und britische Bombergeschwader bombardierten die Forschungsstelle und warfen die deutschen Waffenprogramme um Monate zurück. 

Konnte der britische Geheimdienst also dank der Hartnäckigkeit von Jones einen deutlichen Punktsieg über den deutschen Gegner landen, blieb lange Zeit die Person des offenkundig wohlinformierten Verfassers des „Oslo-Reports“ unbekannt. Der Stasi-Offizier Julius Mader glaubte ihn Anfang der sechziger Jahre in der Person des deutschen Wissenschaftlers Hans Heinrich Kummerow, welcher der „Roten Kapelle“ nahestand und dafür hingerichtet wurde, zu verorten. Das war ebenso falsch wie die Meinung des sehr selbstüberzeugten und geheimdienstnahen amerikanischen Kernphysikers Arnold Kramish, der in seinem Buch „Der Greif“ 1986 im deutschen Wissenschaftsjournalisten Paul Rosbaud den Verfasser des „Oslo-Reports“ zu erkennen glaubte. Der mittlerweile im Ruhestand lebende Reginald Jones hatte Kramish ausdrücklich vor dieser These gewarnt. 

Denn Jones war schließlich doch zu Anfang der fünfziger Jahre der wahre Verfasser des „Oslo-Reports“ bekannt geworden. Doch Jones mußte aufgrund seiner geheimdienstlichen Verpflichtungen lange darüber schweigen. Es handelte sich um das damalige Siemens-Vorstandsmitglied Hans Ferdinand Mayer (1895–1980), der ein hochklassiger Physiker war und vom deutschen Nobelpreisträger Philipp Lenard promoviert und sehr geschätzt wurde. Der Weltkriegsteilnehmer Mayer ging Anfang der zwanziger Jahre von der ihm wenig Entwicklungsperspektiven bietenden Universität Heidelberg in die Industrieforschung von Siemens über, wo er alsbald große Forschungslabore leitete. Er publizierte rege und meldete jedes Jahr gleich mehrere Patente an. 

Der ursprünglich politisch wenig interessierte Mayer entwickelte sich wegen der Judenpolitik der Nationalsozialisten, die er als völlig falsch und ungerecht empfand, zu einem wütenden Hitler-Gegner. Der „Oslo-Report“ war für Mayer eine Möglichkeit, seiner Hitlerfeindschaft Raum zu geben. Materiell war Mayer dagegen nicht interessiert und stellte deshalb weder vor noch nach 1945 an die Engländer irgendwelche Forderungen. Wegen seiner antinationalsozialistischen Haltung wurde Mayer übrigens 1943 bei der Gestapo denunziert und setzte seine Forschungsarbeiten, nunmehr als Häftling, bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern fort. Nach 1945 und nach seiner Wiedereinstellung bei Siemens, war Mayer wegen des in Deutschland herrschenden politischen Klimas nicht daran interessiert, daß seine Rolle bezüglich des „Oslo-Reports“ bekannt wurde. Reginald V. Jones schwieg deshalb bis zum Jahr 1989. 

David Rennert: Der Oslo-Report. Wie ein deutscher Physiker die geheimen Pläne der Nazis verriet. Residenz-Verlag Salzburg-Wien 2021, gebunden, 220 Seiten, Abbildungen, 24 Euro