© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Vielfalt gegen globales Einerlei
Der Soziologe Wolfgang Streeck präsentiert ein bewährtes Konzept gegen EU-Superstaats-Avancen und kosmopolitischen Größenwahn: den Nationalstaat
Eberhard Straub

Die heftigen Spannungen der Gegenwart, eingeklemmt „Zwischen Globalismus und Demokratie“ – so der Titel des aktuellen Buches des Soziologen und emeritierten Direktors des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck –, ergeben sich für ihn aus dem mißlichen Umstand, daß jetzt die leidenschaftlichen Theoretiker einer letzten und totalen Weltverbesserung vehement das konkrete Leben und dessen partikuläre Ordnungen als unvernünftig und naturwidrig verwerfen, da im Widerspruch zu der von ihnen erwünschten Einheit des Menschengeschlechtes. 

Die Demokratie hat es – wie ihr Name sagt – mit etwas Besonderem und Eigenwilligen zu tun, mit einem Volk, einer rechtlich verfaßten Gemeinschaft, die über Institutionen einen „Verpflichtungszusammenhang“ herstellt und sittlich rechtfertigt. Wolfgang Streeck spricht in diesem Sinne unbefangen von der Nation, von der Identität und kulturellen wie rechtlichen Eigenarten, auf die ein demokratisch eingerichtetes Gemeinwesen angewiesen ist, in dem alle Anteil haben an dem, was alle angeht. Volksherrschaft braucht den populus, das rechtlich vereinigte Volk, und bedarf auch der populären Volksfreunde als Beweger und Anreger, heute als Populisten diskriminiert und von Globalisten zum inneren Feind erklärt.

Begeisterte Globalisten, die der Politik als irrationaler Macht mißtrauen und dem Markt mit seiner wundersamen alles heilenden Vernunft als Weltheiland vertrauen, befreien die Demokratie und die Demokraten, wie sie meinen, aus ihren beschränkten Verhältnissen und rücken beide in ein universales Wertesystem. Ein Demokrat braucht gar nicht mehr Anteil zu nehmen an seiner Kommune, seiner Region oder Nation, wenn er sich als moralisch hoch aufgerüsteter Wertegemeinschaftler begreift und bewährt. Die Wertedemokratie, die an die Stelle einer Demokratie als Rechtsgemeinschaft tritt. Sie wird zu einem Erziehungssystem, in dem selbstermächtigte „Erziehungberechtigte“, nämlich Experten und Orientierungshelfer in der „Wissensgesellschaft“, jedem zum wünschenswerten Wertebewußtsein verhelfen und damit befägigen, überhaupt zum gleichberchtigten Bürger aufzusteigen, der sich am öffentlichen Diskurs beteiligen darf.  

Linke Sinnstifter betreiben eifrig die Vereinheitlichung der Welt

Die Wertedemokratie ist auf einen dauernden Kulturkampf angewiesen, um sich vor dem Dazwischenreden inkompetenter Demokraten zu schützen, die den komplexen Problemen der allerneuesten Neuzeit gar nicht gewachsen sind und nur Sand ins Getriebe streuen und die Funktionstüchtigkeit des Systems mit seinen Subsystemen erheblich stören. Dem Volk und dem ahnungslosen Demokraten muß mißtraut werden, solange nicht ein „tugendhafter Monismus“ erreicht ist, also die vollständige Vereinheitlichung des Denkens und Wollens, die ermöglicht, daß die Werte  unangefochten herrschen können, weil allgemein anerkannt und befolgt von den Wertvollen und Werterfüllten. Der sogenannte Diskurs sorgt dafür, daß keineswegs gewaltfrei „Unsagbares“ diskriminiert und eliminiert wird, etwa Zweifel am Wertekanon und der Tugendhaftigkeit einer wehrhaften Demokrtatie, wie einst unter den Jakobinern während der Schreckensherrschaft ihres Tugendterrors 1793/94.

Werte brauchen Gesinnung und Kampfbereitschaft. Die Wertsetzer halten sie für dem Recht und den Institutionen überlegen, wie sie ja ohnehin, dem Markt mit seiner werteschöpfenden Macht ergeben, dem Staat und der Politik wegen ihrer unterkomplexen Regierungsweisen und der damit verbundenen Irrationalität mißtrauen. Das recht unbestimmte westliche, europäische oder universale Wertesystem begreift Wolfgang Streeck als unvermeidlichen Überbau einer Techno- und Merkatokratie, der Freiheiten, Rechte und die herkömmliche Souveränität als sperrige Überbleibsel einer zu überwindenden, ineffizienten Vergangenheit ungemein lästig sind. Die systemrelevanten Deutungsmächte lassen die demokratischen Fassaden stehen, hinter denen die Epistokraten, die wissensbasierten, kompetenten Durchregierer, ihre Vorherrschaft vor Angriffen der Populisten gesichert wissen wollen. Wer auch  immer deren Diskursleitung bestreitet, wird als innerer Feind behandelt, der sich nicht damit abzufinden vermag, statt freier Bürger in demokratisch-bürgerlicher Gleichheit zu bleiben, nur noch als Beifall klatschender Zuschauer  beachtet und geschätzt zu werden.

Es sind gerade solche Sinnstifter, die sich als links verstehen, die mit Inbrunst im Herzen die Vereinheitlichung der Welt und der Menschen vorantreiben. Sie halten als kulturelle Linke am Kapital als der universalierenden Macht fest, an Markt und dessen Werten, die nach weltumspannender Geltung verlangen und mit ihrer großen Freiheit alle übrigen ehemaligen Freiheiten und Rechte in ihrem kosmopolitischen Universum entwerten, abwerten oder umwerten. Auch die Demokratie oder Humanität büßen dabei ihren früheren, unumstrittenen Vorrang ein und werden deshalb in post-demokratischen und post-humanen Zeiten entbehrlich. Wolfgang Streeck will sich darein nicht fügen. Die Demokratie bedarf selbstständiger Staaten oder Nationen, die in aller Freiheit über sich selbst und ihre Lebensformen entscheiden. Selbst bei enger Verbindung und vereinbarter Übereinstimmung in manchen praktischen Angelegenheiten mit den Nachbarn, bleibt unabhängig davon die Souveränität bestehen, die eigenen Belange in einer nationalen Gemeinschaft zu regeln, die von einem gemeinsamen Wollen zusammengehalten wird.

In Europa ist es gerade die Europäische Union, wie Wolfgang Streeck bekümmert schildert, die danach trachtet, Einheit nicht Einigkeit herzustellen und das Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Staaten oder Nationen einzuschränken, um eine Rechtsgleichheit und eine Gleichheit der Lebensformen und Denkgewohnheiten in einer totalen, sich alles unterwerfenden Wertegemeinschaft zu erreichen. Das konnte nie das Ziel eines vereinigten Europa sein, weil verschiedene Völker mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen – trotz aller Gemeinsamkeiten in historisch bedingter Vielfalt – nie nach einem straff organisierten Bundesstaat  streben wollten.

Von dem „Projekt Europa“ zum Schutze einer „europäischen Lebensweise“, wie vor allem deutsche „Europäer“ beteuern, war ursprünglich nie die Rede. Denn diese Lebensweise gab es nicht, und sie gibt es immer noch nicht, trotz zäher Bemühungen über den Konsum und das Warenangebot die Erwartungen der europäischen Völker zu harmonisieren, was heißt zu homogenisieren. Mit vereinten Kräften sollten einige gemeinschaftlich besser zu bewältigende Aufgaben gelöst werden. Die Beschwörungsformel: Europa ist die Antwort, ohne überhaupt geklärt zu haben, worauf, warum, weshalb, war früher völlig unbekannt. Daran erinnert temperamentvoll Wolfgang Streeck.

EU-Globalisten streben danach, die Vielfalt in Europa zu ersticken

Europa wurde nach und nach zum fast außer-weltlichen Sehnsuchtsort des ewigen Friedens und der Erlösung von jedem Unheil stilisiert. Als Heils-ort ist es mittlerweile sakralisiert. Jean-Claude Juncker forderte: Europa – damit meinte er die EU bzw. die Gemeinschaft der Euro-Staaten – müsse man einfach lieben. Da liegt es nahe, in der Nachfolge pfingstlich ergriffener Christen sich bei allen Gelegenheiten zuzurufen: But Jesus is the answer. Nur daß jetzt das EU-Europa der Heiland uns geworden ist und den menschgewordenen Erlöser ersetzt. Wer an der EU zweifelt, erweist sich als Ungläubiger und damit als unmoralisch und wertverwahrlost. Für die Sentimentalisierung und Sakralisierung findet Wofgang Streeck nur herzhaften, erfrischenden Spott. Dieser EU-Kitsch veranschaulicht aber gerade, wie hartnäckig EU-Globalisten danach streben, in einem Superstaat die Nationen zu unterdrücken und die Vielfalt in Europa zu ersticken. Für sie streitet geistreich und leidenschaftlich dieser wahre Europäer.  

Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, gebunden, 538 Seiten, 28 Euro

Foto: Globale Homogenisierung: Die Demokratie bedarf selbständiger Staaten oder Nationen, die in aller Freiheit über sich selbst und ihre Lebensformen entscheiden