© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Botten und Boots
Stiefelzeit: Einige der beliebtesten Modelle haben deutsche Wurzeln
Gil Barkei

Winter ist Stiefelsaison. Wenn es naß, kalt und grau wird, kramen die Leute die dicken Botten hervor – ihre „Boots“, wie es sich neudeutsch eingeschlichen hat. Neben traditionellen Schaftstiefeln und hippen grazileren Chelsea-Boots haben sich in den vergangenen Jahrzehnten ursprünglich aus der Arbeiter- und Militärwelt stammende Schnürstiefel in der Mode etabliert. 

Der rustikale Stil mit dem daumendicken Profil ist mittlerweile auf dem roten Teppich und den Fashion-Hochglanzseiten angekommen und spielt zugleich mit dem ökologischen Bild von Naturverbundenheit und einfachem Landleben. Modelle wie der 6-Inch von Timberland sind längst Kult, nicht nur in Hip-Hop-, sondern auch in Verbindungskreisen. Staubiger Feldweg und matschiger Wald vereinen sich mit Urbanität und Fabrik­ästhetik. Malocher, Künstler und Hipster treffen aufeinander. 

Einst Symbol der Arbeiterklasse, heute hippes Modestück

Zwei der beliebtesten Firmen aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten haben dabei eine wenig beachtete Verbindung zu Deutschland. Als die berühmten Dr. Martens ab 1960 in England auf den Markt kamen, erfreuten sich die wasser-, öl- und benzinunempfindlichen Lederstiefel mit der markanten gelben Naht schnell großer Popularität bei Proletariern, Polizisten und Postboten. 

Über den Labour-Abgeordneten Tony Benn, der die Stiefel als Zeichen seiner Verbundenheit mit den Werktätigen trug, wurden „Docs“ zu einem Symbol der Arbeiterklasse und zu einem Merkmal der Skinhead-Bewegung. Heutzutage findet man das Schuhwerk in zahlreichen Subkulturen von Rock über Punk und Gothic bis zur Technoszene.

Erfunden hat den markanten Acht-Locher allerdings kein Brite, sondern der deutsche Wehrmachtsarzt Dr. Klaus Märtens. 1945 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg konstruierte er aus Uniformresten und alten Armeematerialien einen Sicherheitsstiefel, der trotz der robusten Bauweise geschmeidiger und bequemer sein sollte als bisherige Modelle. Die Lösung des Gründers: luftgepolsterte Gummisohlen.

Über eine Anzeige in einem englischen Bekleidungskatalog entdeckte der Schuhhersteller Bill Griggs die Erfindung Märtens’, der mit seinem alten Studienfreund Herbert Frank eine gut laufende Fabrik in München aufgebaut hatte, und erwarb eine Produktionslizenz. Nach Ablauf der Schutzfrist erhielt sein weiterentwickeltes Produkt den Namen „Dr. Martens AirWair“. 

Kosteten die Arbeitsstiefel in den Sechzigern noch wenige Pfund, so muß man heute für die Einsteigervariante des ikonischen 1460-Modells 189 Euro blechen. Neue Kollektionen – aus Wildleder oder veganen Materialien – können Preise weit über 300 Euro erreichen. Der Großteil der jährlich rund sieben Millionen Paare umfassenden Produktion wurde unter massiven Arbeitsplatzverlusten – soviel zum Schulterschluß mit dem Proletariat – kurz nach der Jahrtausendwende nach Asien ausgelagert. Allerdings sind weiterhin Sonderlinien „Made in England“ erhältlich: der „1460 Vintage“ kostet dann happige 229 Euro. Trotzdem sind von den einst 2.000 Schuhmacherfirmen im früheren Branchenzentrum Northhamptonshire nur noch etwa 30 übrig. 

In den USA gehört Red Wing Shoes neben Anbietern wie Danner, Whites, Thursday oder Thorogood zu den erfolgreichsten Stiefelproduzenten. Die Modelle „Moc Toe“ und „Iron Ranger“ sind Klassiker der amerikanischen Arbeitsbekleidung und „Streetwear“. 

Gegründet hat das Unternehmen 1905 der in Bremervörde geborene deutsche Schuhmacher Charles H. Beckman, der 1873 nach Übersee auswanderte und im Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Lieferanten der US-Streitkräfte aufstieg. Mit Anfertigungen für Ölarbeiter und Farmer machte sich der Schuhkonzern mit den roten Flügeln im Logo einen Namen für spezielle Berufe. Noch heute prägen neben Bauarbeiter- und Truckeraufnahmen die Fotos von Stahlkonstrukteuren, Berufstauchern und Starkstromelektrikern die Marketingauftritte der Firma aus Minnesota. 

Auf Instagram pflegt sie die „Wall of Honor“, die Arbeitern ein Gesicht gibt und ihre Viten neben ihren abgewetzten Stiefelpaaren in Szene setzt. Die Realität des Schuheinsatzes hat in den Vereinigten Staaten wie in Europa zwischen modischem Auftritt in der Medienagentur und dem abgestimmten Outfit für den Motorradwochenendausflug natürlich noch andere, eher akademische Facetten. Immerhin kosten ein Paar „Moc Toe 875“ 299 und ein Paar „Iron Ranger“ 329 Euro. Dafür sind sie sogar beim „working class“-fernen Manufactum erhältlich.

Foto: Dr. Martens: Die Lederstiefel mit der markanten gelben Naht sind wasser-, öl- und benzinunempfindlich