© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/22 / 14. Januar 2022

Der Flaneur
Der Mann im Garten
Paul Meilitz

Bestimmt fünf Jahre fuhr ich mindestens einmal die Woche vorbei. Das winzige Grundstück mit einer schmucklosen Laube im Miniaturformat liegt mitten an einer recht stark frequentierten Querung zwischen zwei Stadtbezirken. Nicht gerade ein Wohlwühlstandort für einen Schrebergärtner. Die Anlage setzt sich als schmaler Schlauch nach hinten fort, und die ganz vorn an der Straße gelegene Parzelle wird auf der einen Flanke von einem Friedhof und auf der anderen von einem Damm begrenzt, hinter dem sich ein kleines Gewerbegebiet befindet. 

Jedesmal wenn ich den Weg befuhr, hockte ein älterer Herr auf einem Campingstuhl in dem Garten und beäugte das Geschehen. Mir schien, daß er stets in der gleichen Haltung verharrte und stets das gleiche verwaschene T-Shirt trug, aus dem selbst im Hochsommer ungebräunte Arme herauslugten. Dem kläglichen windschiefen Geräteschuppen mit seinem schmutzig-rosafarbenen Anstrich widmete der Eigentümer offenkundig keinerlei Aufmerksamkeit mehr.

Ich emfpinde gegenüber dem Unbekannten eine wachsende Dankbarkeit.

Er schien sich vorwiegend auf das aus fünf Furchen bestehende Gemüsebeet zu fokussieren, das zwischen Tomaten, Gurken, Bohnen und Kohlrabi hin und her wechselte. Alles ließ auf einen Alleinversorger schließen. Dazu paßte, daß ich niemals Besucher wahrnahm. Für tobende Kinder wäre auf dem handtuchgroßen Areal auch gar kein Raum gewesen.

Noch immer befahre ich regelmäßig die Straße, und jedesmal dreht sich mein Kopf unbewußt in Richtung der Parzelle mit ihrem asketisch wirkenden Bewohner. Doch nichts ist mehr wie früher. Der ältere Herr ist verschwunden, seine kleine Welt zu einer verwilderten Ödnis verkommen. Ich ertappe mich dabei, Sehnsucht zu empfinden. Auch ohne daß wir ein einziges Wort gewechselt hatten, war der untypische Kleingärtner wie ein vertrauter Freund in mein Innerstes vorgedrungen. Ein Ankerpunkt in einer immer rast- und haltloser werdenden Umgebung. 

Deshalb empfinde ich gegenüber dem Unbekannten eine wachsende Dankbarkeit. Daß sich für den wenig attraktiven Standort bisher kein neuer Pächter gefunden hat, vermag ich nachzuvollziehen, aber selten zuvor hat mich das Empfinden für Einsamkeit und Vergänglichkeit derart intensiv berührt.