© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Einfach weiterwursteln
Vor dem CDU-Parteitag: Einen konservativen Flügel gibt es nicht mehr
Christian Vollradt

Auf weißen Rauch wird niemand warten: Denn wer an diesem Wochenende zum CDU-Vorsitzenden gekürt wird, steht schon fest: Friedrich Merz. Dabei ist es keineswegs überraschend, daß es nicht überraschend ist. Schon in früheren Jahren war meistens vorher klar, wie so ein Parteitagsvotum ausfallen wird, und höchstens die Prozentwerte hatten dann Neuigkeitswert.  

Neu ist diesmal der Grund, warum das Ergebnis bereits feststeht, sozusagen „alternativlos“ ist. Denn die Delegierten, jene fein ausgesiebte Führungsschicht des mittleren Parteimanagements, müssen – oder dürfen – lediglich nachvollziehen, was das Fußvolk schon entschieden hat. Zum erstenmal entschied die christdemokratische Basis, wer sie an der Spitze vertreten und im besten Falle führen soll. Und sie wählte im vergangenen September so, wie sie es mutmaßlich schon 2018, nach dem Rückzug Angela Merkels vom Parteivorsitz, und 2020, nach dem Scheitern Annegret Kramp-Karrenbauers auf eben diesem Posten, getan hätte.

Daß es jedesmal anders kam, ist Beleg für die Kluft zwischen den „einfachen“ Mitgliedern und dem „Establishment“ (Merz) der C-Partei. Der Sauerländer verkörpert – ob zu Recht oder bloß als Wunschvorstellung – die innerparteilich größtmögliche Distanzierung von der Ära Merkel. Das wünschte man sich eher in den Niederungen als weiter oben – und entsprechend waren dann die Ergebnisse, solange die Mitgliederschaft nichts zu melden hatte. Die plebiszitäre Wende kam erst mit der verheerenden Wahlniederlage, nach dem Verlust des Kanzleramts. Das sagt viel aus. Vor allem daüber, wie desaströs der Zustand der Partei ist.  

Und Friedrich Merz? Während seine Gegner nun den Rückfall in die neunziger Jahre, gar einen erzkonservativen Rollback an die Wand malen, sehnen sich seine Anhänger in ihm den Retter schlechthin herbei, der die Partei aus dem Tal der Tränen wieder hinauf in die lichten Höhen der 40-Prozent-plus-x-Volkspartei führen wird. Man muß kein Prophet sein, um zu ahnen, daß die Realität banaler sein wird.  

Seine erste Rolle dürfte der 66jährige eher  in der eines Therapeuten finden, der die geschundene Seele der Partei pflegt. Jetzt heißt es: Tränchen trocknen und Wangen streicheln. Der Sauerländer Merz ist Fleisch vom Fleische der Christdemokraten – und unterscheidet sich darin diametral von Angela Merkel, der postrevolutionären Quereinsteigerin, die zur Partei ein weitgehend funktionales Verhältnis pflegte. Unter ihrer Ägide wurde die Union von oben herab „modernisiert“, was die Basis zuweilen überforderte. Wenigstens vom Gefühl her soll Schluß damit sein.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Solange es einigermaßen lief, hat die Partei klaglos manche Zumutung der Ära Merkel hingenommen – und der Urheberin stehend minutenlang Beifall gespendet. Euro-Rettung, Abschaffung der Wehrpflicht, Atomausstieg, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Erst das Offenhalten der Grenzen 2015 wurde zum Mühlstein am Hals der Union, denn es beförderte erstmals eine Konkurrenz von rechts in die Parlamente.  

Fans wie Feinden des neuen Mannes an der Spitze der CDU ist gemeinsam, daß sie ihn für inhaltlich profilierter halten, als er in Wirklichkeit ist – jenseits seiner Schwerpunkte in Wirtschafts- und Finanzfragen. Dies zeigte sich schon, als Merz im Jahr 2000 mit der von ihm angestoßenen Leitkultur-Debatte eine Weile durchaus erfolgreich die „rechte“ Karte spielte. Das polarisierte, kam in der Anhängerschaft gut an und regte die politische Konkurrenz auf. Doch als es darauf ankam, den Begriff dann für das Parteiprogramm zu unterfüttern, ließ er das Thema wieder in sich zusammenschnurren. 

Konservativ ist Friedrich Merz strenggenommen nur bezogen auf die drei Kernanliegen der alt-bundesrepublikanischen Regierungspartei: Europa, (soziale) Marktwirtschaft und Westbindung. Und überhaupt: Wo sind denn die Köpfe, mit denen der Parteichef gemeinsam das vielbeschworene „Tafelsilber“ wieder zurückholen könnte, das man vor Jahren schon verscherbelte? Einen prononciert konservativen, innerparteilich potenten Flügel gibt es nicht mehr. Überdies sind bis auf wenige Ausnahmen alle, die ihm noch zuzurechnen wären, im vergangenen Herbst aus dem Bundestag geflogen. Die Wirtschaftsliberalen der Mittelstandsvereinigung wären wohl Verbündete im Kampf gegen den Trend nach links, Ersatz sind sie nicht. 

Wird sich mit Merz an der Spitze die seit ihrer Gründung für die Christdemokraten charakteristische Unlust, inhaltliche Debatten zu führen, in Luft auflösen? Wohl kaum. Wahlprogramme interessieren nur, sofern sie Wahlerfolge versprechen und in Regierungsverantwortung führen. Egal, mit wem. Pragmatismus, Pragmatismus über alles in der Welt. Höchst unwahrscheinlich, daß sich eine Partei mit dieser Einstellung in Entscheidungsschlachten um gesellschafts- oder gar identitätspolitische Fragen werfen wird. 

Zumal auch nicht die wohl- (also eher übel-)meinenden Ratgeber an der Außenlinie fehlen, die nicht müde werden zu warnen, die Union möge doch jetzt bitte, bitte nicht das wohlsituierte Neubürgertum in den urbanen Lebensräumen vernachlässigen, das man zu Zeiten von Sankt Angela umgarnt habe. Die Parteien der Ampel, der selbsternannten „Koalition des Fortschritts“, werden dennoch keine Gelegenheit auslassen, Merz als einen Mann (zu ergänzen: alten, weißen …) von gestern darzustellen. Der will dieses Etikett freilich nicht akzeptieren und verspricht: „Ich stelle an uns, auch an mich, den Anspruch, die modernste Volkspartei Europas zu sein.“ Natürlich gilt weiterhin: Wenn auf etwas Verlaß ist, dann auf den Opportunismus innerhalb der Union. Das bedeutet eben auch, daß die C-Partei, wenn der Wind sich dreht, auch wieder „rechter“ auftreten und damit sogar Erfolg beim Wähler haben kann. 

Friedrich Merz wird die Partei weder konservativ wenden, wie es viele seiner Fans erhoffen, noch wird er sie in den Untergang führen, wie nicht wenige Verächter sehnlichst erwarten. Auch mit dem Wechsel an der Spitze, dem dritten innerhalb von vier Jahren, wird die CDU, sobald der Stuhlkreis zur Bewältigung des Wahltraumas vorbei ist, das tun, was sie stets am erfolgreichsten praktizierte: weiterwursteln.