© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

„Wir gehen in die Falle“
Corona spaltet uns, gefördert von Politik und Medien: Der Psychiater und Publizist Hans-Joachim Maaz warnt, sich nicht darauf einzulassen. Doch wie entkommen wir dem unheilvollen psychischen Mechanismus?
Moritz Schwarz

Herr Dr. Maaz, Ihr jüngstes Buch heißt „Corona-Angst. Was mit unserer Psyche geschieht“. Was geschieht mit uns?

Hans-Joachim Maaz: Corona ist nicht nur ein Virus, sondern ein Angstkomplex aus drei Elementen: Zunächst die Angst vor einem unbekannten Erreger, an dem man erkranken, ja sterben kann. Dann kam die politisch-medial geschürte Angst dazu – denken Sie an das Positionspapier im Bundesinnenministerium vom 22. März 2020, das empfahl, Bürgern Angst zu machen, inklusive Kindern, indem man droht, sie seien bei Fehlverhalten schuld am Tod ihrer Eltern oder Großeltern. Und schließlich: Jeder Mensch hat persönliche Ängste – Versagens-, Verlust-, Zukunftsangst, Angst vor bestimmten Phänomenen etc. Die werden in einer Krise, hier durch die Virusangst, sowie die politisch-mediale Angst „aufgewirbelt“. Worauf viele Menschen reagieren, indem sie ihre so aktivierten persönlichen Ängste auf etwas projizieren, das gesellschaftlich virulent ist – wie eben derzeit das Virus.

Hinter der Angst vor Corona steckt also nur zu einem Drittel echte Angst vor Corona, der Rest ist projiziert? 

Maaz: Ja, mehr oder weniger. Und das erklärt, was viele sich fragen, warum die Corona-Angst über zwei Jahre so konstant hoch ist und die Leute alles mitmachen, auch unsinnige, widersprüchliche Maßnahmen, manche gar nach noch drakonischeren rufen.   

Wenn wir alle Angst haben, warum kommt es dann zu so viel Streit? Warum eint die Angst uns nicht? 

Maaz: Wenn eindeutige Not- und Katastrophensituationen vorliegen, kann Angst die Menschen vereinen. Aber die Corona-Realität ist nur eine Gefahr, keine Katastrophe. Und die Informationen sind widersprüchlich, zum großen Teil aufgebauscht. Erkennbare Unwahrheiten führen dazu, daß Ängste in Streit – Pro und Contra – verwandelt werden. Das ist in vielen Beziehungen so: Ängste, Unsicherheiten, Unwahrheiten verursachen Konflikte und Streit. 

Corona bringt also nur zum Vorschein, was schon da ist, und in Wirklichkeit ist niemand auf Ungeimpfte oder Corona-Leugner, auf Maskenträger oder Impf-Apostel sauer – sie sind nur unsere Projektionsfläche?

Maaz: Genau. Im Alltag werden Ängste meist kompensiert und spielen keine große Rolle. Kommt es aber zu einer kritischen Situation, kochen sie hoch und man sucht Schuldige und Feinde. 

Dann stimmte also in Familien, Freundschaften oder Kollegenkreisen, die sich durch Corona haben spalten lassen, zuvor schon etwas nicht?

Maaz: So ist es. Doch um die Beziehung nicht zu belasten, werden die latenten Spannungen gerne verdrängt – das gilt für „Friedenszeiten“. In Konfliktzeiten – jetzt zum Beispiel: Wer hat in der Corona-Frage recht!? – fließen in den Streit auch aufgestauter Ärger oder nie ausgetragene Differenzen aus allen möglichen zwischenmenschlichen Verhältnissen.  

Sie sprechen von Ängsten – aber ist der Grund für Streit nicht eher Ärger oder Enttäuschung als Angst? 

Maaz: Es sind Ängste, die uns bewegen – etwa Angst davor, nicht angenommen, geliebt oder geachtet zu sein –, die dann aber aggressiv abgewehrt werden, etwa in Form von Ärger über andere. 

Wenn es um Angst geht, warum haben wir dann in der Corona-Krise nicht alle vor dem gleichen Angst? 

Maaz: Jeder hat seine Ängste. Und da die Informationen zum Corona-Narrativ widersprüchlich, ungeklärt und zum Teil auch regelrecht falsch sind, entsteht kein vereinigendes Gleiches. Schon die Frage „Ist Corona ein medizinisches oder ein politisches Problem?“ spaltet.

Unabhängig davon, wer in der Debatte um Corona recht hat: Was tun, wenn sich „an oder mit“ Corona eine Familie, Freund- oder Kollegenschaft zu spalten droht? 

Maaz: Dann verlagern Sie das Gespräch unbedingt von der Sach- auf die persönliche Ebene: Sprechen Sie nicht mehr über Inzidenzen, Hospitalisierung oder Karl Lauterbach. Sprechen Sie von sich: was Sie ganz individuell ängstigt, was Sie fürchten, was Sie sich für ihr ganz persönliches Leben wünschen und laden zu einem solchen internalen Gespräch ein – den Streit auf der Sachebene verlassend!

Aber das bringt doch keine Lösung des Streits? 

Maaz: Es läßt ihn aber in den Hintergrund treten. Es ist die Methode, die auch bei Partnerschaftskonflikten angewandt wird. Und die wir schon vielfach erfolgreich eingesetzt haben. Bereits nach der Wiedervereinigung hatten wir Ost- und Westdeutsche in Zwiegespräche geschickt, mit der Bedingung, nur über Persönliches zu sprechen. Ergebnis: Sie kamen sich, anders als sonst, schnell näher – bis man kaum noch feststellen konnte, wer Ossi oder Wessi war.

Was tun, wenn mein Gegenüber unversöhnlich bleibt?

Maaz: Ich räume ein, zwar sind Zwiegespräche sehr hilfreich, oft aber schwer umzusetzen. Denn in der Tat verbeißen sich viele Menschen und beharren darauf, der Konflikt sei allein einer der Sache, und sind nicht bereit, ihre wahren Motive zu reflektieren. Wenn es der andere zuläßt, kann man auch einen Mediator, Coach oder Therapeuten einschalten. Geht das nicht, rate ich, sich eben einseitig konsequent der Sachebene zu verweigern: Gehen Sie auf keinen Fall auf das Thema ein, sondern reagieren Sie stets rein persönlich: Äußern Sie Verständnis dafür, daß Ihr Gegenüber beunruhigt ist und fragen Sie, woher er das kennt und was ihm helfen könnte, damit er sich besser fühlt etc. Und sagen Sie ihm ohne Vorwürfe, wie Sie sich fühlen, wenn er sich verweigert und was Sie sich wünschen würden.

Das läßt sich nicht ewig durchhalten. Kommt vom Gegenüber nichts, steigt bei jedem irgendwann der Frust.

Maaz: Verweigert sich jemand konsequent der Lösung eines Konfliktes, ist man in der Tat machtlos. Deshalb ist es ja auch das Prä der Psychotherapie, daß sie, anders als sonst in der Medizin, keine Patienten annehmen muß, die nicht guten Willens sind.  

Sollten wir Bürger mit gegenteiliger Meinung in puncto Corona vielleicht, statt wie politische Gegner, wie Familienmitglieder betrachten? Schließlich kann man ja ein Volk auch als eine Art Familie ansehen. 

Maaz: Das ist natürlich ein schönes Ideal. Doch lehrt die Erfahrung, daß auf der Straße, besonders wenn demonstriert wird, echte Gespräche nicht möglich sind. Wer sich ernsthaft mit einem Menschen verständigen möchte, muß von der Straße weg in ein Ambiente wechseln, das es erlaubt, persönlich zu werden. Auf der Straße dagegen dominieren Gruppenbildung, Parolen und Proklamationen.

Ist der Ansatz, ein Volk als Familie zu betrachten, also naiv und politisch untauglich?

Maaz: Oh, ich betrachte das sogar selbst so. Auch wenn viele das für absurd halten. Aber man muß sich im klaren sein, daß es eine Familie ist, die niemals frei von Konflikten, immer zum Teil zerstritten ist. Und daß, da Konfliktlösung in der Psychologie etwas Persönliches ist, sich deren Methoden nur begrenzt in der Politik umsetzen lassen. Grundsätzlich aber halte ich den Ansatz für richtig und konstruktiv, politische Gegner nicht als Feind, sondern als Familienmitglieder zu sehen, mit denen man eine Meinungsverschiedenheit hat und deren Motive sehr persönliche und damit verständliche sein können.   

Also sind weder Corona-Skeptiker und -Spaziergänger noch Befürworter der Corona-Politik die Bösen/Dummen beziehungsweise die Guten/Aufgeklärten? 

Maaz: So eine Spaltung des Volkes sollten wir uns auf keinen Fall einreden lassen, auch wenn Teile von Politik und Medien genau das versuchen, indem Kritiker angeprangert, Geimpfte und Ungeimpfte gegeneinander in Stellung gebracht werden. Das soll uns nur in eine Art Geschwisterkrieg führen.

Wie kommen Sie darauf? 

Maaz: Wir haben bisher vor allem über das dritte Element des Angstkomplexes gesprochen, die persönlichen Ängste. Vergessen Sie nicht das zweite Element, die politisch-medial geschürte Angst. Man kann beobachten, daß nicht nur die Furcht vor dem Virus überhöht wird, in einer Weise, wie es mit den statistischen Daten zu Corona nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist, sondern auch wie weitere Ängste angeheizt werden: etwa, die Corona-Proteste zielten darauf, den Staat zu stürzen, die Demokratie abzuschaffen, das wissenschaftliche Denken zu zerstören, ja gar die Aufklärung rückgängig zu machen, oder die Lage sei ähnlich wie in der Weimarer Republik vor 1933 etc. 

Was steckt nach Ihrer Ansicht dahinter?

Maaz: Es soll vor allem vom eklatanten Versagen der Politik ablenken. Es geht um ungeklärte Probleme der Zukunft: Umwelt, Klima, Finanzen, Migration, soziale Ungleichheit etc. Diese berechtigten Zukunftsängste und die aktivierten individuellen Ängste werden auf das Virus und die Kritiker gelenkt. 

Also geht die Spaltung keineswegs nur auf Psychodynamik zwischen den Menschen zurück, sondern ebenso auf die Politik? 

Maaz: Sicher. In jeder Gesellschaft gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen. Die Demokratie hat die Aufgabe, durch Diskurs die verschiedenen Lager zusammenzuführen und so zu verhindern, daß aus Meinungsunterschieden Spaltung wird. Ein großer Teil der Medien und der Politik betreibt jedoch genau das Gegenteil: Abweichende Meinungen werden stigmatisiert, wenn nicht unterdrückt, Andersdenkende zu Gegnern, gar zu Feinden erklärt. Doch zum Glück gelingt diese Spaltung immer weniger. 

Hat die regelrechte Hetzkampagne gegen Ungeimpfte unlängst nicht gerade das Gegenteil bewiesen? 

Maaz: Ich sehe nicht, daß sie verfangen hat. Stattdessen gibt es auch unter denen, die zuvor der Politik vertraut und auf die Impfung als Ausweg aus der Pandemie gesetzt haben, immer mehr Enttäuschte, die sich hinters Licht geführt fühlen und sich zum Teil den Protesten anschließen. Ich habe ja selbst schon an solchen Spaziergängen teilgenommen. Sie werden von Politik und Medien meist als die Abspaltung dargestellt. Tatsächlich aber sind sie es – eben durch das Zusammenkommen von Ungeimpften und Geimpften dort –, die die Spaltung überwinden. 

Geht die Spaltung aber nicht auch von einem Teil der Corona-Kritiker aus? Auch von dort kommen ja mitunter wahnwitzige, Angst schürende Parolen wie  „Impfen ist Genozid!“

Maaz: Leider entstehen bei einer Spaltung auf beiden Seiten Überreaktionen, bis hin zu Fanatismus. Denn die Basis für so eine Disposition liegt in der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Wie er sich später politisch orientiert, hängt dagegen von anderen Faktoren ab, etwa in welchen sozialen Verhältnissen er lebt, wer ihn wie beeinflußt und welche Ereignisse ihn prägen etc. So finden sich intolerante Menschen überall und sind keine Frage des politischen Lagers. 

Woher kommt die Gewalt, die zwar selten, aber offenbar regelmäßig bei Corona-Demos auftritt? 

Maaz: Ich weiß jetzt nicht, welche Informationen Sie haben. Bei den Spaziergängen, die ich mitgemacht habe und vielen Hunderten, die ich im Netz gesehen habe, demonstrierten friedliche Menschen, die vor allem für Frieden, Freiheit und Demokratie einstehen. Ich habe allerdings auch von unangemessener Polizeigewalt gehört und Videos gesehen. Und sicher muß man auch bei jeder Massenansammlung mit gewaltbereiten Menschen rechnen, die eine Gelegenheit suchen, ihren Gefühlsstau abzureagieren. Aber die „Spaziergänger“ damit zu diskriminieren ist spaltende, böse Propaganda, und so gesehen muß man auch mit bestellten Provokateuren rechnen.

Was ist Ihr Ratschlag für die Corona-Demonstrationsbewegung, um nicht in die Falle von Fanatismus, Verschwörungstheorien und Gewalt zu gehen und so ihren Kritikern den Ball auf den Elfmeterpunkt zu legen? 

Maaz: Weitermachen! Zahlenmäßig wachsen! Der Erhalt von Grundrechten und Demokratie geht alle an. Klare inhaltliche Statements und Forderungen: vor allem die Wiederaufnahme eines echten demokratischen Diskurses zu Politik, Berichterstattung und Wissenschaftlichkeit. Und jeder „Spaziergänger“ ist gut beraten, seine Motivation zu ergründen und nicht aus dem eigenen Gefühlsstau heraus zu agieren, sondern das Bemühen um Verständigung zu beweisen und einzufordern. 






Dr. Hans-Joachim Maaz, der ehemalige Chefarzt, Psychiater und Psychoanalytiker ist bekannt durch seine zahlreichen Buchveröffentlichungen sowie Auftritte in den Medien. Seit seinem Bestseller „Der Gefühlsstau“ (1990) gilt er als „Kenner der deutschen Befindlichkeit“ (ZDF). Mit „Die narzißtische Gesellschaft“ (2012) gelang ihm ein „Psychogramm der Bundesrepublik“ (Spiegel). Zuletzt erschienen Anfang 2020 „Das gespaltene Land. Ein Psychogramm“ und Ende 2020 „Corona-Angst. Was mit unserer Psyche geschieht“. Geboren wurde Maaz, der im sächsischen Sebnitz aufgewachsen ist, 1943 in Nieder-Einsiedel im nördlichen Sudetenland. 

Foto: Streit und Haß: „Politische Gegner sollte man nicht als Feinde sehen, sondern als ‘Familienmitglieder’ mit einer anderen Meinung“