© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Irina Scherbakowa. Die Publizistin vertritt in Deutschland die vom Kreml verbotene Organisation „Memorial“.
Gesicht der Bewegung
Albrecht Rothacher

Sie ist wohl die in Deutschland bekannteste Repräsentantin von „Memorial“, deren internationaler Dachverband in Moskau jüngst vom russischen Obersten Gericht verboten wurde. Ihre Familiengeschichte in der Sowjetzeit („Die Hände meines Vaters“) hat Irina Scherbakowa vor vier Jahren auf deutsch veröffentlicht. Sie handelt vom Aufstieg einer jüdischen Intellektuellenfamilie, ihrer Großeltern, in den Dunstkreis Stalins und ihr privilegiertes Überleben im berüchtigten Moskauer „Hotel Lux“, aber auch vom Kriegsdienst des Vaters, dem als Kompaniechef der Roten Armee vor Stalingrad die Hände zerschossen wurden. Dabei beleuchtet die promovierte Germanistin kritisch, aber auch einfühlsam das Ausmaß der Verführung zur Kollaboration in einer totalitären Diktatur, die nach einer Verstrickung wenige Auswege läßt. 

Sie selbst stieß als Übersetzerin von DDR-Autoren, aber auch von Herta Müller über das Schicksal der Rumäniendeutschen zur Samisdat-Literatur, wie das Untergrundschrifttum im Ostblock hieß, und begann schon 1979 Überlebende sowjetischer Gulag-Straflager zu befragen. Mit Gorbatschows Glasnost konnten 1987 diese Aufzeichnungen veröffentlicht werden. Das führte die Moskauer Publizistin bald auch zum von Dissident Andrei Sacharow Anfang 1989 gegründeten Verein „Memorial“, der sich der Aufarbeitung der Verbrechen des Kommunismus, in Sonderheit des Stalinismus widmete, etwa durch Erstellen von Opferlisten, archivarischer Dokumentation der Leiden, Gedenkstätten an Orten von Massenerschießungen und Todeslagern, sowie das berühmte Denkmal „Mauer der Trauer“ vor der KGB-Zentrale Lubjanka. Scherbakowa recherchierte etwa auch zu Speziallagern in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) – bis 1989 ein Tabuthema in der DDR. 

Sie beansprucht einen eigenen Umgang der Russen mit ihrer Vergangenheit, jenseits westlicher „Weisheit“. 

„Memorial“ war jedoch auch ein Dachverband für etwa achtzig Menschenrechtsvereine im In- und Ausland (auch in Deutschland) mit ihren jeweiligen „Steckenpferden“. Die reichten vom Kampf gegen Folter in Kadyrows Tschetschenien, über Listen politischer und religiöser Gefangener im heutigen Rußland (420 an der Zahl) bis zum Einsatz gegen Rechtsradikalismus in Sankt Petersburg. Finanziert wurden diese Unterorganisationen oft durch ausländische Quellen, wie die Heinrich-Böll-Stiftung oder George Soros. Dazu kamen jede Menge Preise „zivilgesellschaftlicher“ Organisationen für „Memorial“, sowie Vorstandssitze für die heute 72jährige, etwa von der Aktion Sühnezeichen bis zum Wiener Wiesenthal-Institut für Holocauststudien. Und tatsächlich deckte sich deren westliche, politisch korrekte bis „bunte“ Agenda inzwischen weithin mit den Zielen vieler Vereine im Dachverband, was nicht nur den Mächtigen, sondern auch der Mehrheit der Russen ein Dorn im Auge ist. Das machte es leicht, „Memorial“ als „ausländische Agenten“ erst unter Druck zu setzen und nun zu verbieten. 

Doch damit hat der Kreml auch eine legitime Opposition ausgeschaltet, die, selbst wenn vom Westen beeinflußt, nicht einfach mit diesem gleichgesetzt werden kann. Auch Irina Scherbakowa etwa beansprucht einen eigenständigen Umgang der Russen mit ihrer totalitären Vergangenheit, jenseits dessen, was man im Westen diesbezüglich für der Weisheit letzter Schluß hält.