© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Lieber nur durchnummerieren?
Berlin: Hunderte historische Persönlichkeiten sollen aus dem Straßenbild getilgt werden
Peter Möller

Für Felix Sassmannshausen dürfte sich die Sache lohnen. Der Leipziger Politologe hat im Auftrag des Berliner Antisemitismusbeauftragten Samuel Salzborn die Namen der 10.500 Straßen und Plätze in der Hauptstadt nach Namensgebern mit antisemitischen Bezügen durchforstet. Das Ergebnis seiner sechsmonatigen Forschungsarbeit hat Sassmannshausen in einer 340 Seiten umfassenden Studie zusammengefaßt. Darin kommt er zu dem Schluß, daß mindestens 290 Straßen und Plätze in Berlin Namen tragen, die antisemitische Bezüge aufweisen, bei rund 100 schlägt er eine Umbenennung vor. „Diese hohe Zahl hat mich schon erstaunt“, sagte der Politikwissenschaftler der Süddeutschen Zeitung. Doch obwohl die Umbenennung von unliebsamen Straßennamen in Berlin derzeit Konjunktur hat, wie zuletzt die kuriose Diskussion um die Mohrenstraße und den gleichnamigen U-Bahnhof in Mitte gezeigt hat, geht Sassmannshausen – vermutlich nicht ganz uneigennützig – die Sache etwas differenzierter an. „Das Dossier ist als Ausgangspunkt zu betrachten“, sagt er. Und tatsächlich findet sich in seinem Dossier hinter Straßennamen, deren Namensgeber tatsächliche oder angebliche Bezüge zum Antisemitismus aufweisen, nicht nur die Handlungsempfehlung „Umbenennung“, sondern in vielen Fällen die Empfehlung „Forschung“, „Kontextualisierung“ oder „Recherche“.

Zu vielen der recherchierten Orte, Sachverhalte und Personen gebe es keine spezifische Forschung zum antijüdischen oder antisemitischen Bezug, lautet die Begründung Sassmannshausens für dieses Vorgehen. In seinen Augen liegt noch einiges an Arbeit vor ihm und seinen Kollegen, um das Thema abzuschließen. Doch auch jetzt schon versammelt das Dossier des Leipziger Politikwissenschaftlers eine umfangreiche Liste von Namen, die zumeist auf Namensgebungen im Kaiserreich oder der Weimarer Republik zurückgehen. Daß die westlichen Bezirke der Hauptstadt in der Zusammenstellung überrepräsentiert sind, verwundert angesichts der ideologisch motivierten Umbenennungen in Ost-Berlin zu Zeiten des DDR-Regimes nicht.

Neben zahlreichen Personen aus „vordemokratischer Zeit“ wie Otto von Bismarck sowie Kaiser, König und Prinzen verzeichnet die Studie auch Mitglieder des Widerstandes gegen Hitler. So empfiehlt sie, einen nach dem Widerstandskämpfer Ulrich von Hassell benannten Weg im Bezirk Neukölln „gegebenenfalls umzubenennen“, da Hassell Mitbegründer der antisemitischen DNVP  gewesen und 1933 der NSDAP beigetreten sei. Immerhin hält Sassmannshausen in diesem Fall als mildere Lösung auch „Recherche, Kontextualisierung“ für ausreichend. Selbst der Kopf des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, kommt nicht ungeschoren davon. Da Stauffenberg sich zeitweilig „offen und freimütig zum Nationalsozialismus bekannt“ habe und es „Hinweise auf antisemitische Ressentiments in seinem Denken“ gebe, empfiehlt die Studie eine „Kontextualisierung“.

„Erste Reaktion war schallendes Gelächter“

Deutlich härter fällt das Urteil bei Richard Wagner aus. Für den Richard-Wagner-Platz in Charlottenburg-Wilmersdorf empfiehlt Sassmannshausen die Umbenennung, da Wagner ein überzeugter Antisemit gewesen sei. Da er zudem Verfasser der antisemitischen Schrift „Das Judenthum in der Musik“ gewesen sei, ließen sich Werk und Weltbild nicht trennen. Daher schlägt die Studie vor, auch Straßen, die nach Wagneropern benannt sind, wie etwas die Tannhäuser- und die Walkürenstraße im Bezirk Lichtenberg umzubenennen.

Der Intendant der Komischen Oper, Barrie Kosky, der 2017 als erster jüdischer Regisseur in Bayreuth die Meistersinger inszeniert hatte, kritisierte diesen Vorschlag Sassmannshausens scharf. Die Forderung nach einer Umbenennung sei lächerlich. „Meine erste Reaktion war wirklich schallendes Gelächter. Das kommt mir vor, als sei das aus einem Film von Mel Brooks darüber, wie der Deutsche im 21. Jahrhundert mit Richard Wagner und Antisemitismus umgehen soll. Meine zweite Reaktion war Wut“, sagte Kosky der Berliner Zeitung. Wagner sei Antisemit und unerträglich gewesen, dennoch aber „einer der wichtigsten Künstler aller Zeiten“. Kosky bezeichnete die Namensliste der Studie als dilettantisch und kritisierte das Vorgehen: „Man sagt nicht: Hier ist eine Liste und jetzt laßt uns diskutieren. Die Debatte muß zuerst kommen, und dann guckt man, was dabei herauskommt. Diese Liste differenziert nicht zwischen einem Politiker, einem Künstler, einem Autor. Es gibt keine Grauzone“, kritisiere der Intendant. Es kommt ihm vor, als basiere diese Liste auf einer Wikipedia- und Google-Recherche, um diese Namen zu finden.

Vermutlich ist diese Einschätzung nicht einmal ganz falsch. Schließlich sieht Namensforscher Sassmannshausen seine Studie lediglich als Auftakt und hat schon ganz genaue Vorstellungen davon, wie es nun weitergehen sollte. Die Arbeit der häufig bereits bestehenden Initiativen vor Ort müsse „auf Bezirksebene begleitet und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet werden“, um den weiterführenden Rechercheaufwand angemessen finanzieren zu können sowie „um ein Forum für öffentliche Diskussionen zu schaffen, indem wissenschaftliche Expert:innen einen Beitrag zur örtlichen Debatte liefern können“, schreibt er in den Handlungsempfehlungen am Ende seiner Studie. Mit den „entsprechenden Mitteln“ könne dann auch eine notwendige Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden. „Nicht zuletzt stellt die Debatte über Kontextualisierung oder Umbenennung einzelner Plätze und Straßen eine Chance für die historisch-politische Bildungsarbeit zu Antijudaismus und Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart dar, die so einen maßgeblichen Beitrag zur Demokratiestärkung in den Bezirken leisten kann.“ Mit anderen Worten: Sassmannshausen stellt sich die Diskussion über Straßennamen in Berlin als einen permanenten und institutionalisierten Prozeß vor, der entsprechend mit Steuergeldern und gut dotierten Stellen für Experten ausgestattet wird.

Für alle, die die nach prägenden Personen der Vergangenheit benannten Straßen und Plätze als Teil der Identität einer Stadt und ihrer Bürger begreifen, ist das zumindest ein kleiner Trost. Allzu eilig haben es Sassmannshausen und seine Auftraggeber offenbar nicht.

Einen Kandidaten für Umbenennungen sucht man in der aktuellen Studie übrigens vergeblich: Karl Marx. Mag das vielleicht daran liegen, daß die deutsche Hauptstadt von einer Koalition unter Beteiligung der Linkspartei regiert wird? Tatsächlich hatte der Kapitalismuskritiker in Sachen Antisemitismus und Rassismus einiges auf dem Kerbholz. So nannte er den Mitbegründer der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalle einen „jüdischen Nigger“. Polnische Juden bezeichnete er als die „schmutzigste aller Rassen“. 

Doch bezüglich dieser Personalie hatte Kultursenator Klaus Lederer (Linke) bereits vor über einem Jahr festgestellt, er sei „kein Freund vom Bilderstürmen“. Im Fall von Karl Marx, so Lederer, „wäre eine Umbenennung Geschichtstilgung“. In anderen Fällen übrigens auch. 

Foto: Berliner U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz: Prägende Personen