© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Wutgeregelt statt gut geregelt
Paul Rosen

Die  Corona-Schutzmaßnahmen im Bundestag sind so kompliziert, daß kaum noch jemand weiß, welchen Impf- oder Teststatus er an welcher Stelle haben muß. Es fängt an den Pforten an: Abgeordnete pflegen hier durchzugehen und müssen höchstens mal ihren Abgeordnetenausweis zeigen, wenn das Pfortenpersonal sie nicht erkennt. Einen Test oder eine Impfung müssen sie nicht nachweisen. Beschäftigte des Bundestages, der Fraktionen und der Abgeordneten auch nicht, Gäste und andere Inhaber von Hausausweisen aber schon.

Im Gebäude wird das Durcheinander komplett. Im Plenarbereich galt bisher der Status „3G“ (also geimpft, genesen oder negativ getestet), in den Büros auch. Nach der jüngsten Allgemeinverfügung von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) gilt in den Büros weiter die 3G-Regelung (wie an allen Arbeitsplätzen), im Plenarsaal und in den Ausschußräumen aber „2Gplus“. In den Plenarsaal kommt nur hinein, wer zweimal geimpft ist und einen negativen Test dabei hat. Wer schon drei Impfungen hat, braucht keinen Test. Wer seinen Impfstatus nicht mitteilen will oder gar nicht geimpft ist, darf nicht in den Plenarsaal, sondern muß auf die Tribüne des Bundestages oder des jeweiligen Ausschußsaales, wird aber nur auf die „Seuchenbank“ (so heißen die Tribünenplätze hausintern) gelassen, wenn er einen negativen Test vorweisen kann. Die Regeln könnten von Franz Kafka stammen, der mit seinem Roman „Das Schloß“ eine undurchschaubare und regelungswütige Bürokratie literarisch verewigt hat.  

Von einem geordneten Plenarbetrieb kann keine Rede mehr sein. Wer auf der Tribüne sitzen muß (bisher waren das nur AfD-Abgeordnete), bekommt von der Stimmung im Plenarsaal nichts mit; Zwischenrufe sind nicht zu hören. Da Abgeordnete auf der Tribüne in ein dort aufgestelltes Mikrofon sprechen müssen, können viele den Redner allenfalls hören, aber nicht sehen, weil die Tribünen in den Saal hineinragen. „Corona-Regeln, die in unzulässiger Weise in das freie Mandat der Abgeordneten eingreifen, sind verfassungswidrig“, protestiert AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann. Auch Juristen der Bundestagsverwaltung sehen in einer Stellungnahme das Recht auf vollumfängliche Teilnahme an parlamentarischen Sitzungen durch den Ausschluß ungeimpfter Abgeordneter unverhältnismäßig eingeschränkt.

Inzwischen kam es zum ersten Ausschluß eines Abgeordneten aus einer Ausschußsitzung. Joachim Wundrak (AfD) konnte als Ungeimpfter nicht an einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses teilnehmen – auch nicht über Internet-Kanäle wie Webex, da diese Sitzungen aus Geheimschutzgründen nicht übertragen werden. „Die überzogenen neuen Restriktionen hindern mich und andere Abgeordnete an der ordentlichen Ausübung des Mandats“, kritisierte Wundrak gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Auf die Tribüne konnte er trotz negativen Tests auch nicht: Der Sitzungssaal des Auswärtigen Ausschusses hat nämlich keine.