© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Auf null gesetzt
Corona-Maßnahmen: Das Gesundheits­ministerium verkürzt den Status „Genesen“ auf de facto zwei Monate. Eine politische Entscheidung, um die Impfkampagne zu beschleunigen?
Björn Harms / Mathias Pellack

Am Montag bestätigte das Robert-Koch-Institut (RKI) es auch offiziell: „Die Dauer des Genesenenstatus wurde von sechs Monaten auf 90 Tage reduziert“, teilte die dem Gesundheitsministerium unterstellte Behörde der JUNGEN FREIHEIT mit. Dabei wäre die Entscheidung beinahe geräuschlos über die Bühne gegangen. Erst nachdem einige Twitter-Nutzer auf die plötzliche Zahlenänderung auf der Seite des RKI hingewiesen hatten, berichteten auch größere Medien über die Reduzierung des Zeitraums bei Genesenen. Woher also kommt die Entscheidung? Und worauf begründet sie sich?

Die schwammige Erklärung des RKI lautet wie folgt: Die „bisherige wissenschaftliche Evidenz“ deute darauf hin, daß nicht gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 Geimpfte „nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikronvariante haben“. Das RKI begründet den verkürzten Genesenenstatus also damit, daß an der Deltavariante Erkrankte einen niedrigeren Schutz vor einer weiteren Infektion mit der Omikronvariante hätten. Wie es jedoch mit einer Reinfektion bei bereits mit der Omikronvariante Erkrankten aussieht, bleibt unklar.

Genaue Studien zur Erklärung werden vom RKI zunächst nicht genannt. Die Behörde hat zwar selbst einen riesigen Wissenschaftsapparat, muß aber trotzdem auf die Erkenntnisse einer ehrenamtlichen Institution verweisen, die bei der Behörde nur angesiedelt ist: Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfehle „bereits seit dem 21. Dezember 2021 die Auffrischungsimpfung für Ungeimpfte, die eine Infektion durchgemacht haben, ab drei Monaten nach der Infektion“, heißt es in der Antwort des RKI.

Zur Erinnerung: Die ersten Omikron-Fälle wurden am 24. November 2021 in Südafrika gemeldet. In Europa identifizierten die Gesundheitsbehörden entsprechende Erkrankungen mit der Variante ab Ende November/Anfang Dezember. Somit liegen nur knapp drei Wochen zwischen dem Auftauchen der Variante und der wissenschaftlichen Einschätzung der Ständigen Impfkommission über die Reinfektionen von Genesenen.

Im Epidemiologischen Bulletin der Stiko vom 21. Dezember widmet die Behörde der „Empfehlung zur Verkürzung des Impfabstands zwischen Grundimmunisierung bzw. Infektion und Auffrisch­impfung auf einen Zeitraum ab drei Monate“ ganze zwei Seiten. Dabei wird unter Bezug auf verschiedene Studien primär begründet, warum doppelt Geimpfte, also Grundimmunisierte, sich nach drei Monaten eine Booster-Impfung verabreichen lassen sollten.

„Erste Analysen“, „vorläufige Schätzungen“, mickrige Datenbasis

Bereits Genesene werden jedoch nur mit einem Satz erwähnt: „Erste Analysen aus dem Vereinigten Königreich deuten auf eine im Vergleich zur Deltavariante höhere Übertragbarkeit sowie auf ein erhöhtes Risiko für eine Reinfektion hin“, heißt es auf Seite 16. Das ist alles. Im Anhang findet man dazu eine verlinkte Studie. Mehrere Analysen, wie im Satz versprochen, gibt es nicht. Die Stiko selbst gibt kleinlaut zu, daß die Empfehlung „auf Basis einer derzeit begrenzten Datenlage getroffen wurde“.

Was aber steht in der verlinkten britischen Studie? Die Analyse der UK Health Security Agency, des britischen Pendants zum RKI, berichtet am 10. Dezember – also zu einem Zeitpunkt, an dem die Virusvariante erst wenige Tage im Land ist – im zitierten Technical Briefing 31: „Derzeit gibt es keine Hinweise auf ein erhöhtes Reinfektionsrisiko in der Bevölkerung, aber vorläufige Analysen deuten auf ein etwa drei- bis achtfach erhöhtes Risiko einer Reinfektion mit der Omikron-Variante hin.“ Als Reinfektion gelten den Briten Fälle, in denen Genesene nach mehr als 90 Tagen erneut Sars-CoV-2-Viren aufweisen. Die Behörde schreibt aber ausdrücklich: „Diese Schätzungen sind vorläufig.“ Und: Die Daten basieren auf lediglich 361 Omikron-Fällen im Vereinigten Königreich.

Im aktuellen Technical Briefing 34 vom 14. Januar 2022 bestätigt die britische Behörde die anfängliche Vermutung und ergänzt: Die Zahl der Reinfektionen erhöhe sich während der Omikron-Welle im Verhältnis zur absoluten Zahl der Ansteckungen. Dies könnte aber auch ein statistischer Effekt sein, da vom Datum der Genesung nur bekannt ist, daß es mindestens 90 Tage her ist. Eine Unsicherheit, die bleibt, ist zudem die Frage, wie sich die erneute Ansteckung auf Krankenhauseinweisungen auswirkt.

Wirklich bahnbrechende wissenschaftliche Expertise gibt es also noch nicht. Trotzdem behauptet Staatssekretärin Sabine Dittmar (SPD) am 13. Januar in einer Rede im Bundestag, diese vorliegen zu haben. Sie verkündet hier erstmals, was zu dem Zeitpunkt selbst beim RKI auf der Netzseite noch nicht verzeichnet ist: „Der Gesenenenstatus wird künftig nach drei Monaten beziehungsweise 90 Tagen entfallen.“ Die Vorgaben bezögen sich auf „aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse“. Auf welche Studien sie sich dabei konkret bezieht, bleibt unklar.

Einen Tag später, am Freitag, bestätigt der Bundesrat schließlich einstimmig das Gesetz der Bundesregierung, durch das mit Blick auf die aufkommende Omikronvariante die „Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung“ geändert wird. Während vorher derjenige als genesen galt, dessen durch einen PCR-Test bestätigte Corona-Erkrankung „mindestens 28 Tage sowie maximal sechs Monate zurückliegt“, wird nun eine entscheidende Streichung vorgenommen:

Aus der Verordnung werden ganz einfach die Zahlen herausgenommen. Statt dessen gelten von nun an „die vom Robert-Koch-Institut unter Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft veröffentlichten Vorgaben“. Dem RKI sei die Aufgabe zugewiesen, „die fachlichen Vorgaben für den Genesenenstatus zu erstellen“, bestätigt die Behörde gegenüber der JF. Das heißt, das RKI kann die Zahlen jederzeit ändern und künftig die Dauer des Genesenenstatus der Betroffenen beliebig festlegen.

„Ich halte die Änderung der Ausnahmeverordnung für verfassungswidrig“, kritisiert der Staatsrechtler Dietrich Murswiek im Gespräch mit der JF. Die neue Regelung sei mit dem Demokratieprinzip und mit den Grundrechten der Betroffenen unvereinbar. „Vom Genesenenstatus hängt es ja ab, ob die Betroffenen ihre Freiheit ausüben können, wenn sie bei Geltung der 2G-Regelung zum Beispiel ins Theater gehen oder im Restaurant essen wollen“, sagt Murswiek. „Die Voraussetzungen für Freiheitseinschränkungen müssen aber im Gesetz oder in einer Rechtsverordnung geregelt sein und dürfen nicht von Fachbehörden außerhalb des Rechtsetzungsverfahrens festgelegt werden.“

Mit Johnson & Johnson Geimpfte gelten jetzt nicht mehr als geimpft

Am 14. Januar jedoch erscheint bereits die ab dem 15. Januar geltende neue Verordnung des RKI auf seiner Netzseite. Auch weiterhin muß die Erkrankung für den Genesenennachweis mindestens 28 Tage zurückliegen. Die Maximalzahl wird hingegen auf „höchstens 90 Tage“ reduziert. Der Genesenenstatus gilt damit de facto nur noch etwa zwei Monate (90 Tage – 28 Tage = 62 Tage).

Parallel dazu veröffentlicht auch das Paul-Ehrlich-Institut eine neue Vorgabe: Ebenfalls am 15. Januar verfügt die Behörde ohne Vorwarnung, daß von nun an mit einer Dosis Johnson & Johnson geimpfte Personen plötzlich nicht mehr als „grund­immunisiert“ gelten. Millionen verlieren damit über Nacht ihren Impfstatus.

Zumindest im Fall der Genesenen ist klar: Staatssekretärin Dittmar aus dem Gesundheitsministerium wußte, noch bevor das RKI seine Verordnung veröffentlichte, von der Zahl 90, die im vom Bundesrat abgesegneten Gesetzestext nicht einmal auftaucht. Das RKI ist dem Gesundheitsministerium unterstellt. Ist die Zahl also eine politische Entscheidung und nicht wie behauptet nach gründlicher wissenschaftlicher Einordnung erfolgt? Soll hiermit die Impfkampagne beschleunigt werden?

Beim Robert-Koch-Institut wird man am Montag jedenfalls hektisch. Nachträglich werden auf der Netzseite zu den fachlichen Vorgaben des Genesenennachweises wissenschaftliche Quellen eingefügt – nachdem die JF danach gefragt hatte. Wieder findet sich hier die Stiko-Empfehlung, zusätzlich ergänzt um das aktuelle Technical Briefing 34 der UK Health Security Agency – auf dessen Ausgabe 31 sich ja die Stiko beruft. Man dreht sich im Kreis. Die einzig neue Quelle ist eine Studie aus Großbritannien, die bereits am 22. Dezember vom Epidemiologen Neil Ferguson veröffentlicht wurde. Die Analyse befaßt sich jedoch vorrangig mit Hospitalisierungen.

Valides Datenmaterial zur Immunisierung von Genesenen gibt es bislang nur für die Deltavariante. Und hier verzeichnen die Analysen ganz andere Zahlen: „Die Immunität hält mindestens zehn Monate“, sagt etwa eine Studie der Universität Lübeck aus dem Juni 2021. Andere Studien bewegen sich in ihrer Einschätzung zwischen sechs und 15 Monaten. Die Schweiz hat erst kürzlich den Genesenenstatus von sechs Monaten auf zwölf Monate erhöht. In Österreich gilt das Genesenenzertifikat ab dem 11. Tag des positiven PCR-Tests „bis zu 180 Tage danach“.

In Deutschland aber beschränkt man die Möglichkeiten der Genesenen nun drastisch – ursprünglich aufgrund der Befunde einer Studie, die sich auf 361 Omikron-Fälle in Großbritannien bezog. Dabei ist übrigens noch überhaupt nicht wirklich klar, ob die Entscheidung auch rückwirkend in Kraft getreten ist. Gilt sie auch für Personen, die etwa im Dezember erkrankt sind? Beim RKI scheint man damit überfordert: „Das ist eine regulatorische Frage, das Bundesgesundheitsministerium sollte hier weiterhelfen können“, teilt eine Sprecherin der JF mit.

Dort heißt es dazu auf JF-Nachfrage: „Ab deren Inkrafttreten sind die neuen Regelungen rechtsverbindlich. Alle bestehenden Fälle richten sich dann, insbesondere die Absonderungsdauer und die Freitestmöglichkeit, nach den angepaßten landesrechtlichen Regelungen.“ Und auch hinsichtlich der „aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ verweist ein Sprecher wie zuvor das RKI lediglich auf die zwei Seiten in der Stiko-Empfehlung, die – wie erwähnt – auf einer „begrenzten Datenlage“ fußt.

(Grafiken siehe PDF)

Foto: RKI-Präsident Lothar Wieler (l.), Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und amtlicher Genesenennachweis: Millionen Bürger verlieren über Nacht ihren Corona-Impfstatus