© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

In aller Schärfe
Die Nato und Rußland finden nicht zueinander: Die neuen kalten Krieger
Ralph Meese

Mit Raketen bewaffnete Kampfjets patrouillieren entlang der Grenze zum Nato-Gebiet. Die Maschinen tragen die Hoheitsabzeichen Weißrußlands und Rußlands und sind nichts anderes als eine Drohgebärde. Sie demonstrieren den auf eine weitere Osterweiterung fixierten westlichen Politikern die Waffenbrüderschaft zwischen Minsk und Moskau. Während der Westen die Ukraine militärisch aufrüstet, liefert Rußland Mehrzweckkampfflugzeuge, Luftabwehrsysteme und Panzerhaubitzen an Weißrußland. Putin hat aus seiner zögerlichen Haltung in der Ukraine gelernt, wo es mit Hilfe der EU und der USA gelungen war, eine prorussische Regierung zu stürzen.

Das Ringen um die militärische Einbindung der Ukraine und Weißrußlands – die bisher als Pufferstaaten zwischen Nato und Rußland wirkten – birgt immer mehr die Gefahr, daß es tatsächlich zu einem bewaffneten Konflikt kommt. Moskau sieht sich bedroht, wenn die USA in der Ukraine Raketen stationieren, die Moskau in fünf Minuten erreichen könnten.

Eine Sicherheitsarchitektur, die jeder anders haben will 

Und angesichts der bisher gemachten Erfahrungen – rotierende Truppenkontingente im Baltikum, Raketensysteme in Rumänien und Polen, zunehmende Nato-Manöver im Schwarzen Meer – hält Putin dieses Szenario für möglich und fordert eine neue verbindliche Sicherheitsarchitektur.

Mitte Dezember hatte das russische Außenministerium Entwürfe für eine solche veröffentlicht und dies mit einem beispiellosen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze begleitet. Gefordert wurde, daß die USA die Einrichtung von Militärstützpunkten in Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die nicht Mitglied der Nato sind, einstellen und die Osterweiterung des Bündnisses – es geht derzeit um Georgien und die Ukraine – beendet wird.

Beides lehnte Julianne Smith, Ständige Vertreterin der USA bei der Nato, ab. Ihr Land sehe bei diesen Fragen keinen Spielraum für einen Kompromiß. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte, sein Bündnis werde die Ukraine weiter auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft unterstützen: Kiew habe „das Recht, sich zu verteidigen“. Und dabei blieb es auch bei den Sicherheitsgesprächen der Spitzendiplomaten am 10. Januar zwischen Rußland und den USA in Genf, auf der Tagung des Nato-Rußland-Rates zwei Tage später in Brüssel sowie den OSZE-Gesprächen am 13. Januar in Wien.

Parallel dazu demonstrierte Putin in dem für Rußland ökonomisch extrem wichtigen Kasachstan, wie schnell sein Militär einsetzbar ist. Man werde keine weiteren Umstürze im russischen Interessengebiet zulassen, ließ der Präsident verlauten. Und dachte gleichzeitig laut über die Stationierung russischer Truppen vor der Haustür der USA – auf Kuba und in Venezuela – nach.

Rußland will aber auch Sicherheitsvereinbarungen bezüglich der Weiterentwicklung von Waffen – von der Flugabwehr kaum abfangbare Hyperschallraketen müßten nicht auf Kuba stationiert werden, um US-Territorium zu treffen–, über Abrüstung und letztlich die gegenseitige Kontrolle und Kommunikationskanäle für den Notfall.

Lediglich bei der Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa und der Begrenzung von Großmanövern entlang der Nato-Rußland-Grenze sei man für Verhandlungen offen, sagte Bidens Vize-Außenministerin Wendy Sherman nach den siebenstündigen Verhandlungen in Genf. Sie könne nicht verstehen, daß sich ein mächtiges Land wie Rußland von der Ukraine bedroht fühle. „Heute ging es um eine Diskussion, um ein besseres Verständnis füreinander und für die Prioritäten und Anliegen des jeweils anderen. Es war nicht das, was man eine Verhandlung nennen würde“, betonte Sherman.  

Moskaus Verhandlungsführer Sergej Rjabkow kündigte an, daß sein Land Militärübungen auf seinem Territorium auch künftig durchführen werde. „Dies klingt nach schwerwiegenden Differenzen und einem heftigen Schlagabtausch hinter verschlossenen Türen“, konstatierte die NZZ.

Immerhin scheint US-Präsident Joe Biden bei einem Telefongespräch mit Putin am letzten Tag des alten Jahres klargeworden zu sein, wie weit er seinen Gesprächspartner in die Enge getrieben hat. Denn als er Putin mit weiteren „umfangreichen wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Sanktionen“ drohte, erklärte dieser, in diesem Fall die Beziehungen zu den USA komplett abzubrechen. Man werde sich so verhalten, wie „sich auch die USA verhalten, wenn Offensivwaffen in der Nähe der US-Grenze stationiert würden“.

Eine Andeutung, die Biden offenbar verstand, denn dieser versicherte, daß ein Atomkrieg „inakzeptabel“ sei, und sagte zu, daß die USA keine Offensivwaffen an die Ukraine liefern oder selbst dort einsetzen werden. Trotzdem ist das Unverständnis groß: Die amerikanische Seite habe „ihren Wunsch gezeigt, die Logik und das Wesen der russischen Bedenken zu verstehen“, so der russische Präsidentenberater Juri Uschakow.

Bei der Tagung des Nato-Rußland-Rates sei eine große Anzahl „von Divergenzen in grundlegenden Fragen“ für alle sichtbar geworden, sagte Vize-Außenminister Alexander Gruschko. Er könne sich nicht erinnern, jemals an Gesprächen teilgenommen zu haben, die „in solcher Direktheit und Schärfe“ geführt wurden: „Es war ein Gespräch von Herz zu Herz“, so der Russe, und es sei gelungen, den Nato-Mitgliedern zu vermitteln, daß „für uns die Situation unerträglich wird“. 

US-Spitzenpolitikerin Sherman sieht das anders. Rußland habe mit den der Nato aufgezwungenen Gesprächen vor allem eines geschafft, es hat ganz Europa, die Nato- und Nicht-Nato-Verbündeten gleichermaßen zusammengebracht, alle, die „die gleichen Prinzipien, den gleichen Ehrgeiz, die gleichen Hoffnungen teilen, und dieselbe Verpflichtung zur Diplomatie“. Inzwischen würde auch in Finnland und Schweden über einen Nato-Beitritt diskutiert.

Vor allem in Schweden schlagen die Wogen hoch. Das Land hat bereits veranlaßt, seine militärische Präsenz auf Gotland zu verstärken. Schweden befinde sich in der „gefährlichsten Situation in Europa seit den frühen 1960er Jahren“, schreibt der ehemalige schwedische Ministerpräsident und Außenminister Carl Bildt in seinem Blog. „Putin kann ein militarisiertes Großrußland errichten, dessen dunkler Schatten auf große Teile Europas fallen wird“, schreibt der liberal-konservative Schwede.Bildt zufolge ist die russische Forderung, zu kontrollieren, welche Staaten der Nato beitreten können, unvereinbar mit der „bestehenden europäischen Sicherheitsordnung“.

Heißer Tanz um eine „Frage von Leben und Tod“ 

Auch Schwedens Außenministerin Ann Linde beschreibt die aktuelle Sicherheitslage als „äußerst ernst“. „Ich will nicht sagen, daß wir unmittelbar bedroht sind, aber es ist nicht auszuschließen, daß wir es in Zukunft sein könnten“, sagte die Sozialdemokratin in einem Interview mit Aftonbladet.

Moskau weigert sich derzeit noch, die Nichtanerkennung der für Rußland existenzwichtigen und damit nicht verhandelbaren Sicherheitsgarantien – für Putin-Sprecher Dmitri Peskow „eine Frage von Leben und Tod“, auf die es bei Ablehnung nur eine „militärisch-technische Antwort“ geben könne, zur Kenntnis zu nehmen. Es wartet auf eine schriftliche Antwort auf seine Vorschläge und läßt damit bewußt die Tür für weitere Gespräche offen.

 „Wenn es aber den Parteien nicht gelingt, sich auf die Grenzen zu einigen, die nicht überschritten werden dürfen, könnte dies katastrophale Folgen haben“, warnte der ständige Vertreter Rußlands bei der OSZE, Alexander Lukaschewitsch. Für US-Präsident Joe Biden gilt es auch abzuwägen, welche Konsequenzen das angedrohte militärische Engagement Rußlands in Mittel- und Südamerika haben könnte und wie die Chinesen auf dieses reagieren könnten. 

Foto: Ost-West-Konflikt 2022: Die USA, die Nato und Rußland reden zwar wieder miteinander, aber außer Drohungen kommt nicht viel Neues