© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Erbitterte Schreie nach Demokratie
Tunesien: Aus einer friedlichen Revolutionsfeier wird plötzlich eine Straßenschlacht
Marc Zoellner

Der massive Gewaltausbruch der Gewalt überraschte selbst die Demonstranten: Mit Schlagstöcken und Schilden bewaffnet rückten vergangenen Freitag gleich mehrere Hundertschaften der Polizei gegen etwa eintausend oppositionelle Demonstranten vor, die sich unweit der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum der tunesischen Hauptstadt Tunis versammelt hatten, um gegen Tunesiens Staatspräsident Kais Saied zu protestieren. 

Mittels Wasserwerfern und Tränengas wurde die demonstrierende Menge schließlich zerstreut; Augenzeugenberichten zufolge kam es zu Dutzenden Verhaftungen. „Es war der gewalttätigste Eingriff von Sicherheitskräften, den wir seit einem Jahr erleben mußten“, berichtet ein Teilnehmer dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera. „Sowohl bezüglich der Vorgehensweise als auch der Anzahl der Verhafteten.“

Für Tunesien hätte der 14. Januar eigentlich ein Freudentag sein können. An diesem Datum vor genau elf Jahren floh der damalige Diktator Zine el-Abidine Ben Ali, der das Land nach seinem gelungenen Putsch von 1987 bis 2011 beinahe ein Vierteljahrhundert lang autokratisch regierte, vor den Unruhen des Arabischen Frühlings ins saudi-arabische Exil, wo Ben Ali schließlich im September 2019 verstarb. 

Zehn Jahre lang feierte Tunesien seine erfolgreiche Revolution alljährlich zum 14. Januar auf der geschichtsträchtigen Avenue Habib Bourguiba. In diesem Jahr verbot Tunesiens Präsident Saied allerdings sämtliche Feierlichkeiten; vordergründig, um einer Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. „Der 14. Januar ist der Jahrestag der tunesischen Revolution“, erklärt Imed Khamiri, Fraktionsvorsitzender der moderat-islamistischen „Ennahda“-Partei, am Rande der Demonstration. „Freie Tunesier an diesem Tag am Demonstrieren zu hindern ist ein furchtbarer Rückschritt. Es ist ein Schlag gegen sämtliche Errungenschaften der tunesischen Revolution.“

Tatsächlich stellen die derzeitigen Demonstrationen eine komplette Kehrtwende in der innenpolitischen Bündnispolitik Ennahdas dar, zu welcher Saied einen Großteil der Verantwortung trägt. Seit den ersten freien Parlamentswahlen vom Oktober 2011 hatte sich der Stimmanteil der Islamisten bis 2019 von 37 auf 19 Prozent nahezu halbiert. Aufgrund der tiefgreifenden ökonomischen Probleme Tunesiens, die nebenher in einer Ausreisewelle junger Tunesier nach Europa mündeten, war die jüngste Wahlniederlage Ennahdas deutlich absehbar. 

Der Arabische Frühling hat wenig Fruchtbares erzeugt

Zur Konsolidierung ihres parlamentarischen Einflusses unterstützte die Bewegung bei der letzten Präsidentschaftswahl im September 2019 den unabhängigen Kandidaten Saied, der in vielen Fragen ebenso islamistische Positionen bezog und im zweiten Wahlgang schließlich mit 73 Prozent gewann.

Nachdem sich seit Januar 2021 im ganzen Land regelmäßige Massenproteste gegen Regierungschef Hichem Mechichi etablierten, an denen auch Ennahda-Funktionäre teilnahmen, entließ Saied im Juli 2021 Mechichi mit der Begründung seines Versagens bei der Bewältigung der Corona-Krise.Nicht zu Unrecht: Mit über 25.000 Toten bei nur zwölf Millionen Einwohnern wies Tunesien eine der höchsten Sterblichkeitsraten Afrikas auf. 

Wurde Mechichis Absetzung anfangs noch von breiten Bevölkerungsschichten begrüßt, schlug die Stimmung ab vergangenem Herbst hingegen rasch um. Saied erklärte sich vorläufig nicht zu Newahlen bereit und begründete ein rigides System zur Bekämpfung der Pandemie. Seit Dezember sind Impfpässe mit doppelter Impfung für sämtliche Tunesier verpflichtend; anderweitig wird nicht nur der Zutritt zu öffentlichen Gebäuden, zu Bussen und Bahnen und selbst zu vielen Geschäften verwehrt.

 Tunesier ohne doppelte Impfung dürfen ebenso nicht mehr in Staatsdiensten tätig sein und werden ohne Lohnfortzahlung beurlaubt. Die Impfquote in Tunesien beträgt der Nachrichtenagentur Reuters zufolge derzeit lediglich 53 Prozent. Selbst Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International beklagen massive „Verletzungen der Rechte von Arbeitern sowie der Freizügigkeit“.

Mit den Gewerkschaften sowie den größten Fraktionen des seit Sommer 2021 entmachteten Parlaments verhandelt Saied seit Jahresbeginn über einen Fahrplan zur Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie. Allerdings unter seinen Bedingungen: Neuwahlen zieht der tunesische Präsident laut eigenem Bekunden erst ab Dezember 2022 in Betracht. Die Opposition sieht hierin die Gefahr einer Rückkehr der Diktatur nach ägyptischem Vorbild. Nicht zuletzt, da Saied eigenmächtig den Jahrestag der tunesischen Revolution vom 14. Januar auf den 17. Dezember zurückdatierte – vom tunesischen Feiertag, an welchem der Ex-Diktator Ben Ali aus dem Land fliehen mußte, auf jenen Trauertag, an welchem der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi sich nach seiner Mißhandlung durch Polizisten in der Kleinstadt Sidi Bouzid selbst verbrannte und mit diesem Akt den folgenschweren Arabischen Frühling auslöste.

Foto: Protest gegen Präsident Kais Saied in Tunis: Covid-Ausgangssperre und ein Demonstrationsverbot brachten das Faß zum Überlaufen