© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Die unterschätzte Wirtschaftsmacht
Geldanlagen: Sind die beliebten ETFs gefährlich? / Nutzen und Gefahren von indexbasierten Fonds
Dirk Meyer

Kostengünstig, transparent und mit breiter Streuung – ETFs (Exchange Traded Funds/börsengehandelte Investmentfonds) erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Weltweit stieg das in ETFs verwaltete Vermögen von 417 (2005) auf 7.737 (2020) Milliarden Dollar auf das 18fache. Zugleich nahm die Zahl derartiger Anlagealternativen von 453 auf 7.602 zu. Der Anteil des in ETFs angelegten Vermögens beträgt inzwischen etwa 14 Prozent aller Investmentfonds. Hierbei dominieren mit 76 Prozent Aktien-ETFs.

Im Gegensatz zu aktiv gemanagten Investmentfonds, deren Verwalter gemäß einer Strategie bestimmte Wertpapiere in ihren Vermögenskorb nehmen, bilden ETFs den Index einer Wertpapierklasse (Aktien, Anleihen, Rohstoffe) ab. Daraus folgt beispielsweise für einen Dax-40-ETF, daß dieser der Wertentwicklung der 40 im Dax vertretenen Aktien bis auf Nachbildungsfehler 1:1 folgt: Gewinnt der Dax zwei Prozent hinzu, gewinnt auch der ETF zwei Prozent an Wert – und umgekehrt.

Nicht jeder hat ein Händchen wie der US-Investor Warren Buffett

„ETFs sind dummes Geld“ – diesem, der passiven Nachbildung eines Index geschuldeten Urteil ist nur bedingt zuzustimmen. Einerseits wird mit der Anlage nur nachgebildet, was „aktive“, häufig besser informierte Anleger vormachen. Andererseits kann die Nachahmung mangels eigener Sachkunde eine intelligente Strategie darstellen. Anders ausgedrückt: Nicht jeder hat ein Händchen wie der US-Investor Warren Buffett, und auch der liegt mitunter daneben.

Ein wesentlicher Vorteil liegt in den geringen Kosten. So entfällt der bei herkömmlichen Investmentfonds übliche Ausgabeaufschlag von 3 bis 6 Prozent beim Erwerb. Hinzu kommen die jährlichen Verwaltungsgebühren, die bei aktiv gemanagten Fonds im Schnitt 1,5 Prozent betragen. Bei einem Dax-ETF liegen diese Kosten zwischen 0,08 Prozent und 0,16 Prozent. Gegenüber Einzeltiteln kann bereits mit geringen Anlagebeträgen eine breite Risikostreuung erreicht werden. Darüber hinaus werden weniger liquide Anlagesegmente wie beispielsweise Unternehmensanleihen erschlossen. Sie kennzeichnet eine hohe Geld-Brief-Spanne zu Lasten der Kunden, die die Brutto-Gewinnspanne der Händler widerspiegelt. Auch gibt es Kapitalverkehrsbeschränkungen wie beim Handel mit chinesischen Festlandaktien, die durch den MSCI China mit etwa 700 chinesischen Aktien überwunden werden können. Zudem entsteht zusätzliche Liquidität, wenn ETF-Anteile ihren Besitzer wechseln, ohne daß die im Index befindlichen Wertpapiere gehandelt werden. Diese „Zusatzliquidität“ im Markt wirkt weiter kostensenkend.

Diesen Vorteilen stehen allerdings einige Gefahren gegenüber, die sowohl den einzelnen Anleger wie auch den gesamten Kapitalmarkt betreffen. Zunächst einmal zählen ETFs zum Sondervermögen, fallen also bei einer Pleite des ETF-Anbieters oder der depotführenden Bank nicht in die Konkursmasse. Allerdings kann ein Gegenparteirisiko bestehen, wenn der ETF-Anbieter die Aktien oder Anleihen für einen bestimmten Zeitraum an einen anderen Marktteilnehmer zu spekulativen Zwecken gegen eine Gebühr verleiht, diese aber in einer Finanzkrise nicht oder nicht rechtzeitig zurückerhält. Dies ist aber ein nicht risikoloses Zusatzgeschäft, das etwa 30 Prozent des Gewinns einer ETF-Gesellschaft ausmacht. Zudem bilden sogenannte synthetische ETFs einen Index mit meist schwer handelbaren Wertpapieren (Unternehmensanleihen, Papiere aus Entwicklungsländern) nur durch ähnliche, korrelierte Papiere (replizierend) nach, was ein weiteres Risiko darstellt. Informationen über die Anlagerichtlinien sind also auch hier wichtig.

Der Vorteil einer Investition in weniger liquide Anlagen kann bei Marktstreß mit Verkaufsdruck ins Gegenteil umschlagen („Liquiditätsillusion“). Dann besteht die Gefahr, daß der ETF-Anbieter die von ihm gehaltenen Wertpapiere in einem engen Markt mit wenig Handelsumsatz nicht zeitnah verkaufen kann, da sich keine Käufer finden („ausgetrocknete Märkte“). In der Folge kann der Börsenkurs von ETF-Anteilen kurzfristig deutlich unter den Wert des Index fallen. Professionelle Anleger wie Versicherungen würden deshalb entsprechende ETFs möglichst frühzeitig veräußern (First-Mover Advantage), was den negativen Kursdruck weiter verstärkt. Privatanleger kämen nicht an ihr Geld, und Ansteckungseffekte für andere Wertpapiermärkte sind nicht ausgeschlossen.

Handelsunterbrechungen könnten hier einen Beitrag zur Marktstabilisierung leisten. Bei liquiden, umsatzstarken Märkten können ETFs zudem eine Trendverstärkung hervorrufen, wenn einzelne Schwergewichte im Kurs sinken. So betragen die Dax-Anteile von Linde 9,7 Prozent und Siemens 9,3 Prozent. Da die ETF-Gesellschaft bei entsprechenden Kursverlusten dieser Firmen ihre Anteile im ETF reduzieren muß, kommt es zu weiteren Verkäufen. Schließlich sinkt der ETF im Wert, was den Verkaufsdruck verstärkt und letztlich auch hier zu Marktansteckungen für andere Firmentitel und Märkte führen kann.

Blackrock, Vanguard oder State Street meist größter Einzelaktionär

Die indexbasierte Anlage in einem Korb von Aktien führt zur Frage, ob einzelne Aktien des Index noch korrekt bewertet sind, wenn doch das in ETF fließende Kapital pauschal gemäß der Anteilsgewichtung investiert wird. Die Informationsfunktion der Kurse leidet und damit die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes. Einen ähnlichen Effekt kann das passive Anlageverhalten für die ETF-Manager haben, die die Kontrolle und Eigentümerfunktion auf den Hauptversammlungen der Firmen eher selten aktiv wahrnehmen, da sie gemäß den ETF-Regeln handeln müssen – entsprechend angenehm für die Firmenvorstände, die große Indexfonds als Aktionäre haben.

Es gibt bereits Vorschläge, verpflichtende Gebühren von etwa 0,0005 bis 0,001 Prozent des Fondsvolumens einzuführen, die die ETF-Anbieter für den Dialog mit und die Aufsicht von börsennotierten Unternehmen einsetzen müßten. Umgekehrt wird es möglich, daß die gleichzeitige Eigentümerschaft an Firmen derselben Branche Absprachen begünstigt und damit eine wettbewerbswidrige Bedrohung darstellt. So sind die Investmentfirmen Blackrock, Vanguard oder State Street bei neun von zehn der im US-Index S&P 500 gelisteten AGs größter Einzelaktionär. Untersuchungen der amerikanischen Pharma- und Bankenbranche sowie der Luftfahrtindustrie legen einen Zusammenhang zu steigenden Preisen und verzögerten Innovationen nahe. Daß diese Gefahren bislang weniger offensichtlich zutage traten, liegt auch daran, daß das starke Wachstum bei ETFs erst nach der Weltfinanzkrise 2008 einsetzte und anhaltende Marktverwerfungen seitdem ausblieben.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

ETFs – Zahlen und Fakten: www.brokervergleich.de

Foto: Börsenkurse von Indexfonds: Die gleichzeitige Eigentümerschaft an Unternehmen derselben Branche begünstigt mögliche Absprachen