© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Von Lessing „Immer wieder neu aushandeln“ lernen
Ein hochaktueller Klassiker
(wm)

Eine wichtige Voraussetzung für die Lesbarkeit eines „Klassikers“ ist seine Aktualität. Die für Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) von keinem Geringeren als Botho Strauß schon vor zwanzig Jahren vehement bestritten worden ist. Der Verfasser des Dramas „Nathan der Weise“ sei der prototypische „Gutmensch“, der „politisch korrekteste Klassiker der Deutschen“, der dafür verantwortlich sei, daß mancher Schüler das Wort Literatur zeitlebens nur noch mit einem „unguten Pflichtgefühl“ verbinde. Strauß’ Kritik richtete sich nicht allein gegen den Autor Lessing, sondern gegen die Aufklärung insgesamt, die sein Werk repräsentiert: „Wir brauchen keine Aufklärung mehr. Wir sind aufgeklärt bis zur innersten Zerrüttung.“ Ganz anderer Ansicht sind da die Didaktiker, die ein dem Moralisten Lessing gewidmetes Heft der Zeitschrift Praxis Deutsch (290/2021) bestückt haben. Für sie ist der für die liberale Tradition der Aufklärung stehende  „Wahrheitssucher“, der die Prinzipien des „freien Dialogs“ hochhielt, nur das „bessere Argument“ gelten lassen wollte und der für die Akzeptanz gesellschaftlicher Randgruppen wie die der Juden warb, heute aktueller denn je. Mit Lessing lernten Schüler anzuerkennen, daß das, was demokratische, multikulturelle Gesellschaften zusammenhalte, aus „Diskursen und kulturellen Praktiken unterschiedlicher Herkunft“ bestehe, deren Regeln „immer wieder neu ausgehandelt werden müssen“. Gerade in einer Zeit, in der die Tendenz zunehme, sich gegen abweichende Meinungen zu immunisieren und illiberale Bestrebungen zur „Vereindeutigung der Welt“ Konjunktur haben, „gibt es gute Gründe, Lessing im Deutschunterricht zu lesen“. 


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