© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Hinein ins Reich der inneren Freiheit
Romantik: Vor hundert Jahren wurde Hans Pfitzners Kantate „Von deutscher Seele“ erstmals aufgeführt
Eberhard Straub

Ich will heute nicht viel schreiben, muß Dir aber noch erzählen, daß die neue Kantate von Pfitzner, ein abendfüllendes Werk nach selbst ausgewählten einzelnen Sprüchen und Liedern von Eichendorff, nicht weniger ergreifend in ihrer Art ist als der Palestrina. Diesem Manne gab unser aller Leid, zumal das Leid Deutschlands, den Weg zu sich selbst, er ist heute, was er sein kann; und kann man mehr verlangen?“ Das schrieb der Dirigent Wilhelm Furtwängler am 31. Dezember 1921 seinem Freund Ludwig Curtius offenbar nach dem Studium der Partitur, da die Kantate erst drei Wochen später in Berlin am 27. Januar 1922, also vor hundert Jahren, zum ersten Mal aufgeführt wurde. Hans Pfitzner nannte sie „Von deutscher Seele“, woran all jene heute Anstoß nehmen, die bei Kunstwerken, die eine Verbindungen mit deutsch und Deutschland nicht scheuen, sofort Unrat und Unheil wittern.

Hans Pfitzner wählte mehr aus Verlegenheit denn aus nationalem Pathos diesen Titel, weil ihm „Eichendorffiana“, woran er anfänglich dachte, allzu philologisch und abschreckend für ein Publikum erschien, das für dies anspruchsvolle Werk des eigenwilligen und daher nicht gerade populären Komponisten gewonnen werden sollte. Außerdem machte sich damals keiner des Chauvinismus verdächtig, der unbefangen von deutscher Seele sprach. Denn ganz selbstverständlich beschworen Franzosen und Spanier, wenn sie von ihrer Kunst und Literatur handelten, ihren eigenartigen Genius und Volksgeist oder Engländer die „englishness of english art“. Ein großer katholischer Theologe wie Hans Urs von Balthasar schrieb drei Bände über die „Apokalypse der deutschen Seele“, ohne deswegen 1937 gar als Freund des Nationalsozialismus verdächtigt zu werden.

Nationale Eigenschaften als Ausdruck seelischer Kräfte

Goethe oder Hugo von Hofmannsthal, die beide sehr genau wußten, was sie Frankreich verdankten, waren sehr skeptisch, ob Deutsche und Franzosen sich je richtig verstehen könnten. Sie verglichen beide – wie früher schon Madame de Staël – mit dem Fuchs und dem Storch während ihrer glücklosen, gemeinsamen Mahlzeit. Wie der kluge und wendige Fuchs können sich Franzosen nichts aneignen aus dem Gefäß des Storchs, der den Deutschen repräsentiert. „Mit dem besten Willen wissen sie nicht, was sie aus unseren Sachen machen sollen“, bemerkte Goethe 1825 in einem Brief an seinen Freund, den Komponisten Carl Friedrich Zelter.

Hofmannsthal greift 1926 dessen Urteil auf in einem Brief an den Schweizer Historiker Carl J. Burckhardt: „daß wir einander das Beste eben doch nicht sagen können (…) mit dem Blick unendlicher Sympathie über die unbequemen Schüsseln hinweg“. Zugleich hob er einen weiteren fundamentalen Unterschied hervor. Das hochmütige und verzweifelte Bemühen französischer Denker und Schriftsteller, alles, im Hier und Heute energisch kämpfend, zwischen Kamin und Wand ausfechten zu müssen: „uns aber ist immer der Schritt durch die Wand ins Drüben gegeben“.

Kurzum, der Hinweis auf Unterschiede, auf nationale Eigenschaften als Ausdruck besonderer seelischer Kräfte und Veranlagungen, bestätigte vorzugsweise, daß Europäer bei aller Sympathie füreinander im Anderen eben stets den Anderen sahen und anerkannten, gerade um Mißverständnisse zu vermeiden. In Pfitzners Kantate, geschrieben zu einer Zeit, in der keiner wissen konnte, was aus dem von Krisen beunruhigten Deutschland werden würde, spielen die unmittelbaren politischen Konflikte gar keine Rolle. Von Deutschland und den Deutschen ist nicht die Rede, auch nicht von Franzosen oder Briten, erst recht nicht von Krieg und Niederlage und deren Folge. Der Komponist fuchtelt nicht polemisch in einengenden Räumen vor Mauern, die ihm die Übersicht versperren. Er schlüpft durch die Wand hinüber in ein inneres Reich, in das wahre Reich der Freiheit und Selbstbehauptung. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. Das verkündeten beharrlich die deutschen Romantiker und mit ihnen Eichendorff, an deren Gedanken Hans Pfitzner bewußt anknüpfte, kein naiver, sondern ein historisch-wissenschaftlich geschulter, sehr geistreicher später Romantiker.

Ohne Kunst verliert das Leben seine Freude

In seiner Kantate geht es um unser aller Leid, wie Wilhelm Furtwängler, vom Geist der deutschen Romantik und Innerlichkeit gleichfalls geprägt, spürte, um das Leben mit all seiner Unberechenbarkeit in der immer beweglichen, überraschenden Geschichte mit ihren Katastrophen oder Metamorphosen. Das Leid aller kann im Leid der Deutschen oder Deutschlands eine ergreifende, eben beispielhafte, Konkretisierung erfahren. Denn im besonderen Fall offenbart sich das allgemeine „Leid der Welt ... davon die Dichter sagen“, was den jungen Ighino in Pfitzners Oper „Palestrina“ ernst und nachdenklich stimmte. Doch „Von Deutscher Seele“ handelt zuerst und vor allem vom unweigerlichen Drama, zu dem jedes Leben derer wird, die – herausgefordert von Täuschungen, Lug und Trug, vom überall lauernden Unheil – sich nicht verwirren lassen und den Mut verlieren, ihrer Bestimmung zu folgen, frei und unerschrocken ihre Würde als Ebenbild Gottes und damit als Mensch zu behaupten.

Ohne einfühlende Vorbereitung erinnert Pfitzner sofort zu Beginn mit Worten Eichendorffs an das Elend des Menschen in der Welt, in der Geschichte als dauerndem Werden, mit ihren Untergängen und Übergängen: „Es geht wohl anders, als du meinst!“ Was willst du auf dieser Station? Der Postillon, der mit seinem Horn zur Lebensreise aufruft, ist der Tod, der Herr der Welt und der Menschen. „Du mußt doch alles lassen.“

Mit symphonischen Nachtgedanken von ungewöhnlicher Eindringlichkeit will Pfitzner ganz im Sinne Eichendorffs dazu überreden oder Unentschlossene aufrütteln, trotz allen Stürmens und sämtlicher Widrigkeiten in der äußerlichen Welt, sich nicht einschüchtern zu lassen, sich vielmehr wacker mit allen Mächten zu zausen, um deren Übermacht zu entkräften und nicht der Zeit, dem Druck der Aktualität, zu unterliegen. „Was ist dein kleines Erdenleid? / Du mußt es überfliegen!“ Es ist der Genius der Tat, des Handelns, auf den der Ritter und Streiter, der Freiherr und freie, selbstständige Mann, Joseph von Eichendorff, vertraut, „Fass’ das Steuer, laß das Zagen!“

Freilich, der Mut dazu schenkt sich nur dem, der sich nicht eitel und verwegen auf seine eigene Kraft verläßt, sondern sich dem König, „wunderreich mit königlichen Sinnen“, ergibt, nämlich Christus, der herrlich im stillen Reich, im inneren Reich, herrscht und den Tag, der das Herz mit seinen Verlockungen und Täuschungen betört, um seine Macht und Übermacht bringen kann. Er allein gewährt nach dem Scheitern eigenen Wollens die Kraft, zu tragen, was das eigene Streben zunichte machte, aus der Ergebung in einen höheren Willen Trost und Gleichmut zu gewinnen. Nach Unwettern zeigt sich auf dunklem Grund verheißungsvoll der farbige Friedensbogen. Auf ähnliche Weise wirkt versöhnend in bösen Stunden, bei Mißgeschick und trüber Niedergeschlagenheit, ein Lied oder die Kunst, die mit ihrer Schönheit ein Abglanz und eine Vorahnung der ewigen Wahrheit ist, die sich glänzend in Gott offenbart. 

Die Kunst mit ihren sinnreichen Gaben übt eine besondere Gewalt mit ihren Versprechen und Verlockungen. Vor lauter Sinnen und Singen „kommen wir nicht recht zum Leben“. Ohne rechtes Leben „muß zu Ende gehen das Singen“. Und ohne Kunst verliert das Leben seine Freude und seinen sittlichen Rang. Wie in allem, kommt es auf das innere Gleichgewicht an, das jeden dazu befähigt, sich hoch über dem Leben zu halten und sich nicht nötigenden Zwängen zu fügen.

Es geht weder Eichendorff noch Pfitzner um ein vorsichtiges, philisterhaftes Sichbescheiden. Des Lebens Ziel ist Handeln. Die Innerlichkeit und Seelenstärke sollen den einzelnen, der sich zu einer freien und unverwechselbaren Person bilden muß, in Stand setzen, daß er die Dinge formt und nicht passend gemacht wird für Zwecke, die überhaupt nicht mit seiner Würde zu vereinbaren sind. Dazu bedarf es des Enthusiasmus und einer immer regsamen, produktiven Einbildungskraft, welche die jeweils ganz eigentümlichen Temperamente auf die äußere Welt, die Gesellschaft und den Staat hinlenken, ohne die jeder einzelne sich selbst und seine Lebensaufgabe verfehlen würde.

„Nur das Eigentümliche ist wahrhaftig, lebendig und frei, und nur unter Freien ist eine Vereinigung denkbar“, ob in der Gesellschaft oder im Staat, wie Eichendorff und andere Romantiker zu bedenken gaben. Die so oft geschmähte deutsche Innerlichkeit ermöglichte erst die schöpferische Tätigkeit, auf die ein Gemeinwesen angewiesen ist, will es nicht nur ein Apparat sein, der auf reibungslose Funktionstüchtigkeit achtet und den menschlichen Faktor, den souveränen, mitbestimmenden Bürger, auf ein technisches Element reduziert. Die Romantiker sehnten sich heraus aus dem Maschinenstaat des monarchischen oder demokratischen Absolutismus. Sie hofften auf ein ernsthaftes, politisches Leben, in dem die Totalität des Daseins nicht verkümmert, sondern als Zusammenspiel sämtlicher Gemütskräfte, die einander ergänzen und durchdringen, das starre System mit seinen Subsystemen sprengt und den Staat mit der Freiheit verbindet. 

Insofern ist das innere Reich der Seele dem politisch-geistigen nicht entrückt. Denn für die Romantiker war die innere Freiheit überhaupt die Voraussetzung, öffentlich tätig werden und dazu beitragen zu können, daß die Freiheit aller keine bloße Theorie bliebe. In den wirren Jahren gleich nach dem Ersten Weltkrieg war ja nicht nur die Handlungsfreiheit des Deutschen Reiches in Gefahr, sondern die geistige Freiheit des Menschen überhaupt. Die Kantate mit ihren lyrischen Mahnungen und symphonischen Meditationen verdeutlicht sinnlich, Gefühle weckend und weiter entwickelnd, wovon der Dichter Eichendorff prosaisch-nüchtern in einer politischen Abhandlung sprach: „Es ist (…) gleich willkürlich, ob man den Leuten sagt, ihr sollt nicht frei sein, oder: ihr sollt und müßt grade auf diese und keine andere Weise frei sein!“ 

Pfitzners Kantate „Von deutscher Seele“ handelt von der Freiheit und verdient daher heute besondere Aufmerksamkeit.

 http://www.pfitzner-gesellschaft.de

Foto: Komponist Hans Pfitzner (1869–1949): „Was ist dein kleines Erdenleid? / Du mußt es überfliegen!“ (Joseph von Eichendorff)