© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/22 / 21. Januar 2022

Die würgende Not an der Kehle
Im Jahr 1932 stieg die Arbeitslosenzahl im Deutschen Reich auf über sechs Millionen Menschen / Sternstunde für Extremisten von rechts und links
Karlheinz Weißmann

Im Februar 1932 überschritt die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland die Marke von sechs Millionen. Aber selbst diese Zahl liefert noch keinen vollständigen Eindruck von der Dramatik der Situation. Denn hinzu kamen noch etwa zwei Millionen arbeitslose Jugendliche, Männer und Frauen, die die Statistik aus verschiedenen Gründen nicht erfaßte. In einer Gesellschaft, in der der „Alleinverdiener“ der Normalfall war, bedeutete das, daß mittelbar oder unmittelbar mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung die Folgen der Arbeitslosigkeit zu tragen hatten.

Deren Hauptursache lag in dem ökonomischen Kollaps, der durch den „Schwarzen Freitag“ der New Yorker Börse am 25. Oktober 1929 ausgelöst worden war. Der führte zuerst zum Zusammenbruch von amerikanischen Banken und Unternehmen und griff dann auf die europäischen Märkte über. Diese „Weltwirtschaftskrise“ traf Deutschland besonders hart. Das Reich hatte die Kriegs- und Inflationsfolgen noch nicht überwunden, es waren weiter hohe Reparationszahlungen an die Siegermächte zu leisten, und die Abhängigkeit von kurzfristigen Krediten aus den USA erwies sich unter den gegebenen Umständen als fatal.

Den vollen Umfang der Probleme begriff man in Berlin aber nur nach und nach, denn die Vorgänge in Übersee zeigten ihre Konsequenzen mit einer gewissen Verzögerung. So scheiterte im Sommer 1930 die letzte Regierung mit demokratischer Mehrheit auf Grund eines eher nebensächlichen Problems. Der Streit um die Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent ließ die Koalition von SPD und DVP zerbrechen. Man schrieb Neuwahlen aus und hoffte, daß sich bis zum Herbst die Wirtschaft erholen werde. Davon konnte aber keine Rede sein. Die Menge der Konkurse wuchs, und bereits im Juli des Jahres stieg die Zahl der Arbeitslosen auf 2.765.000, dann bis zum Juli 1931 auf 3.990.000 Personen.

Arbeitslosigkeit bedeutete vielfach nicht nur Abstieg, sondern Absturz. Ein Leben in ständiger Sorge um Wohnung, Nahrung, Kleidung und Heizung. Betroffen waren in erster Linie die großen und mittleren Städte wegen ihrer Abhängigkeit von Industrie, Handel und Gewerbe. In ihnen mehrten sich jetzt die Anzeichen der Verwahrlosung. Menschen, die Krieg, Revolution, Nachkrieg, dramatische Geldentwertung und „Währungsschnitt“ überstanden und gemeint hatten, es lasse sich wieder „in geordneten Verhältnissen“ leben, mußten zuerst alles von Wert verpfänden, dann Hab und Gut verkaufen. Medikamente konnten nicht bezahlt werden, für warmes Essen stand man bei der Suppenküche an, im Winter wurden die Kinder zu Hause im Bett behalten, weil Geld für Kohle fehlte oder die Sohlen der Schuhe zu zerschlissen waren, weshalb man sie nicht in die Schule schicken konnte. 

Eine ungeheure Verarmung setzte ein, viele verübten Selbstmord

Vor den Toren Berlins entstanden illegale Siedlungen aus Zelten, Baracken und Erdhöhlen, in denen diejenigen hausten, denen man das Dach über dem Kopf genommen hatte. Aber die Not traf auch „Bessergestellte“: „Wer jetzt durch die Wohnstraßen des Berliner Westens schlendert“, hieß es in einem zeitgenössischen Bericht, „durch diese sauberen, ruhigen, gepflegten Straßen, erlebt auf Schritt und Tritt, daß ein, meist alter Mensch auf ihn zukommt, Mann oder Frau, vielmehr Herr oder Dame – denn sie sind nicht anders gekleidet als wir selbst –, und um Geld bittet. Manche kommen lächelnd auf einen zu, so als wollten sie einen guten Bekannten begrüßen; andere betteln stumpf und ausdruckslos; noch keiner hat, vorläufig, den weinerlichen Jammerton des berufsmäßigen Bettlers ... Am schlimmsten sind die, die gar nichts reden. Solange es hell ist, sitzen sie verloren auf den Bänken der breiten Straße; später streichen sie die Zäune der Restaurants entlang, bleiben stehen, stieren den Essenden an, ohne zu reden, ohne zu betteln, ohne sich zu regen.“ In bürgerlichen Kreisen stieg die Selbstmordrate. Am 12. Dezember 1931 berichtete die Vossische Zeitung lapidar von einem Ehepaar, der Mann stellungsloser Ingenieur, das gemeinsam in den Tod gegangen war, und vom Fall eines Kaufmanns und Kapitäns a. D., der angesichts des bevorstehenden Bankrotts zuerst seine Frau, dann den gerade heimkehrenden Sohn und zuletzt sich selbst erschossen hatte. 

Die Verarmten und die Armen suchten Auswege in anderer Richtung. Wiederholt kam es zu Plünderungen. Kriminalität und Prostitution, die nach Kriegsende explosionsartig zugenommen und bis Mitte der 1920er Jahre mühsam eingedämmt worden waren, griffen erneut um sich. Das Ausweglose der Situation, in der sich die Masse der Erwerbslosen befand, brachte aber die Fotografie zum Ausdruck, die einen auf der Straße stehenden Mann im fadenscheinigen Anzug zeigt, der ein Pappschild mit der Aufschrift „Nehme jede Arbeit an!“ umgehängt hat, .

Dem wachsenden Druck hielt das deutsche Sozialsystem nicht stand. Im Januar 1932 erhielten noch knapp 1,8 Millionen, also etwa ein Viertel der Arbeitslosen, Arbeitslosenunterstützung – „Alu“ – aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung. Bis zum Ende des Jahres war dieser Anteil infolge von Kürzungsmaßnahmen um fast sechzig Prozent reduziert. Ein größerer Teil der Betroffenen bekam sowieso nur die Krisenfürsorge – „Kru“ –, und die Mehrzahl sah sich an die Wohlfahrt verwiesen oder wurde – das galt für etwa ein Fünftel – von jeder Leistung ausgeschlossen. Zu dieser letzten Gruppe gehörten vor allem Kurzarbeiter, Landarbeiter, Hausangestellte, jugendliche Arbeitslose und verheiratete Frauen. Wie viele Heranwachsende aufgrund der Wirtschaftslage keine Ausbildung beginnen konnten oder ohne Entgelt arbeiten mußten, ist nicht mehr festzustellen.

Einmal abgesehen von der demoralisierenden Wirkung lang andauernder Erwerbslosigkeit und den Ängsten, die sich vor allem im Mittelstand angesichts drohender Proletarisierung entwickeln mußten, spielte das Faktum, daß Arbeitslose sehr viel freie Zeit hatten, eine erhebliche Rolle für deren Radikalisierung. Die Werbekommandos der Kommunisten und der Nationalsozialisten, die an den Warteschlangen vor den Stempelstellen der Arbeitsämter agitierten, konnten auf erhebliche Zustimmung rechnen, wenn sie einfach verlangten, daß alles anders werden müsse. Spürbar wurde die Wirkung solcher Propaganda zuerst am „Erdrutschsieg“ der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930. Sie steigerte ihren Stimmenanteil von 2,8 auf 18,3 Prozent der abgegebenen Voten und wurde zur zweitstärksten Fraktion des Parlaments. Allerdings konnte auch die KPD dazugewinnen und mit 13,1 Prozent der Stimmen ihr bis dato bestes Ergebnis erzielen.

Viele Beobachter registrierten, daß sich in der Bevölkerung und am stärksten unter den Arbeitslosen verbreitete, was man die „antikapitalistische Sehnsucht“ (Gregor Strasser) nannte. Von der konnte die alte Arbeiterpartei SPD kaum profitieren, ganz im Gegensatz zu KPD und NSDAP. Den Ausschlag dafür gab auch die nationalistische Welle, die Deutschland seit der Auseinandersetzung über den Young-Plan erfaßt hatte. Auf die reagierte die KPD geschickt mit ihrer Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes vom 24. August 1930, in der es hieß: „Wir erklären feierlich vor allen Völkern der Erde, vor allen Regierungen und Kapitalisten des Auslandes, daß wir im Falle unserer Machtergreifung alle sich aus dem Versailler Frieden ergebenden Verpflichtungen für null und nichtig erklären, daß wir keinen Pfennig Zinszahlungen für die imperialistischen Anleihen, Kredite und Kapitalanlagen in Deutschland leisten werden.“

Allerdings erschien diese Art „Nationalkommunismus“ zuletzt deutlich weniger überzeugend als das, was der „Nationalsozialismus“ bot. Die NSDAP wuchs ab 1930 durch den Zustrom Erwerbsloser in einem bis dahin kaum vorstellbaren Maß. Bis zum Januar 1933 stieg die Zahl der ausgegebenen Mitgliedsbücher von 300.000 auf 1,4 Millionen. Angesichts der großen Fluktuation bedeutet das nicht unbedingt auch die gleiche Zahl von „Parteigenossen“, die man auf etwa zehn Prozent weniger zu schätzen hat. Aber die Notwendigkeit, die Ortsgruppen in dem Zeitraum von 5.000 auf 10.000 zu erhöhen, spricht für sich wie die Tatsache, daß die NSDAP bei den Reichstagswahlen des Jahres 1932 zur stärksten Partei aufstieg. Bei der Mobilisierung in den „Wahlschlachten“ spielte die Parteimiliz SA eine wichtige Rolle. Seit 1930 hatte sie einen enormen Andrang junger Männer zu verzeichnen, der dazu führte, daß sich die Zahl der 60.000 SA-Angehörigen bis zur „Machtergreifung“ mehr als verzehnfachte. Wer als Arbeiter oder Arbeitsloser in die SA eintrat, mußte aber nicht nur Einsatzbereitschaft bei Propagandamarsch oder Straßenkampf zeigen, sondern konnte auch hoffen, daß ihm deren „Sozialismus der Tat“ zugute kam: ein Schlafplatz in einem SA-Wohnheim und eine warme Mahlzeit täglich. Der Satz „Wer kein Hemd mehr am Leibe hat, kann immer noch das Braunhemd anziehen“, hatte durchaus sachliche Gründe.

Unaufhaltsamer Siegeszug der Nationalsozialisten 

Bei einer Untersuchung in der Nachkriegszeit haben zwei Drittel der befragten Zeitzeugen angegeben, daß ihrer Erinnerung nach die Arbeitslosigkeit der wesentliche Grund für die wachsende Republikfeindschaft und deren Beseitigung der wesentliche Grund für die anfängliche Zustimmung zum NS-Regime war. Tatsächlich sorgte sie für die Zermürbung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, steigerte die Enttäuschung angesichts der nicht gehaltenen Verheißungen und der Instabilität eines politischen Systems, das in elf Jahren 17 Kabinette mit neun Kanzlern verschlissen hatte. 

Die Folge dieses Prozesses war, daß in der Endphase „Weimars“ selbst besonnene Köpfe eine sehr bittere Bilanz zogen. So schrieb der Romanist Ernst Robert Curtius Anfang 1932: „Alle Menschen in Deutschland spüren, daß das Jahr (…), in das wir soeben eingetreten sind, ein Jahr der großen Entscheidungen sein wird. Die dreizehn Nachkriegsjahre, die hinter uns liegen, gewinnen in der Rückschau den Charakter eines bloßen Provisoriums. Wir sind im Begriff, alles zu liquidieren, was zwischen 1920 und 1930 mit dem Anspruch auf neue Geltung auftrat. Die geistigen und künstlerischen Moden dieses Jahrzehnts – Expressionismus und Jazz, Schwarmgeisterei und neue Sachlichkeit – sind schon längst verwelkt und verscharrt. Aber auch in der Politik hat uns das vergangene Jahrzehnt nur Scheinlösungen gebracht, die jetzt als solche erkannt werden. (…) Wir haben alle möglichen Experimente gemacht, haben uns vertröstet und vertrösten lassen, wir haben alle Methoden versucht, ohne an sie zu glauben. Jetzt sitzt uns die würgende Not an der Kehle. (…) Deutschland bebt in Krämpfen, und wir haben nur die eine Hoffnung: ‘Es muß besser werden, weil es nicht mehr schlechter werden kann.’“

Foto: Bergarbeiterfamilien müssen in Notbaracken leben, oberschlesisches Kohlerevier 1932: „Wer kein Hemd mehr am Leibe hat, kann immer noch das Braunhemd anziehen“; Arbeitslose Hafenarbeiter stehen in Grüppchen unter einer Brücke: Mittelbar oder unmittelbar waren mehr als sechzig Prozent der Deutschen von der Not betroffen