© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Die Logik bleibt auf der Strecke
Corona-Maßnahmen und kein Ende: Die Hospitalisierungen sinken, doch die Exekutive hat sich völlig verrannt
Michael Paulwitz

Deutschland im Januar 2022: Ein gründlich aus den Fugen geratenes Land irgendwo zwischen Tollhaus und Belagerungszustand. Regierungspolitiker übertrumpfen sich in martialischer Rhetorik gegen die eigenen Bürger, spielen Teile der Bevölkerung gegen andere aus, verhängen Ausgangssperren, Einkaufs- und Lokalverbote und berufliche Schikanen gegen jene, die sich trotz aller Anpreisungen gegen ein neuartiges Impfverfahren entscheiden, während auf den Straßen Woche für Woche in über tausend Städten die größte friedliche Massenmobilisierung stattfindet, die die Bundesrepublik Deutschland je gesehen hat.

Die Zeichen stehen weiter auf Eskalation. Nachdem in Österreich ein Parlamentsbeschluß zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht für Erwachsene gegen das Coronavirus ergangen ist, berauscht sich auch diesseits der Alpen die etablierte Politik mit zunehmend grimmiger Rhetorik an der Perspektive, die eigene Bevölkerung mit einer derartigen Zwangsmaßnahme zu überziehen und die seit zwei Jahren im Namen der Pandemiebekämpfung betriebene Einschränkung und Außerkraftsetzung zentraler Grund- und Freiheitsrechte auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit auszuweiten.

Auch wenn Österreich dafür den Vorreiter in der EU macht – bislang haben, vom Vatikan abgesehen, sich eher Staaten vom Kaliber Indonesien, Tadschikistan und Turkmenistan zu einem solchen Schritt entschlossen: Deutschland dürfte mit der Corona-Impfpflicht, wenn sie denn kommt, wieder einmal ziemlich alleine in Europa dastehen und seinen schon in der Migrations- und Energiepolitik gefestigten Ruf als politischer Geisterfahrer der westlichen Welt weiter festigen. 

Zwar verhängen auch Frankreich und Italien derart rigide Ausgrenzungsmaßnahmen, Berufs- und Beförderungsverbote gegen Nicht-Geimpfte, daß sie einem De-facto-Impfzwang nahekommen. In immer mehr europäischen Ländern stehen dagegen die Zeichen längst auf Entspannung. In Schweden ohnehin: Das skandinavische Land ist ohne rigide Zwangsmaßnahmen und Gängelungen besser durch die Krise gekommen als die Lockdown-Länder. In Großbritannien winkt bereits das Ende von Masken- und Homeofficepflicht, Besucherbeschränkungen bei großen Sportveranstaltungen sind bereits Geschichte. Im oft als Vorbild gepriesenen Israel wächst die Einsicht, daß Lockdowns nicht funktionieren; das Land plant, ebenso wie Spanien, das Virus künftig wie eine gewöhnliche Grippe zu behandeln. Und in Tschechien steht die für Senioren und einzelne Berufsgruppen beschlossene Teil-Impfpflicht noch vor der Einführung schon wieder auf der Kippe – der Widerstand aus der Bevölkerung war schlicht zu groß.

Grund für die neue Gelassenheit ist die Tatsache, daß die Zahl der Erkrankungen und Hospitaleinweisungen stagniert, auch wenn die Zahl der „Infektionen“ – also der positiv Getesteten – in die Höhe schnellt. Das Virus tut also, was die Fachleute von Anfang an erwartet hatten: Es mutiert laufend, und es setzen sich schlußendlich diejenigen Mutationen durch, die sich leichter verbreiten, also ansteckender sind, und gleichzeitig dem Wirt weniger schaden, also milder verlaufen, was wiederum der Verbreitung des Virus nützt.

In Deutschland verweigert die offizielle Debatte hartnäckig diese Erkenntnis, obwohl selbst Hofvirologe Christian Drosten genau diese Entwicklung schon im Sommer 2020 prophezeit hatte. „Die Wissenschaft“ zählt also nur, wenn es in die Agenda der Maßnahmenpolitik fortgesetzter Grundrechts­einschränkungen paßt. Dabei hatte man sich auch hierzulande noch vor wenigen Monaten darauf geeinigt, die Zahl der Krankenhauseinweisungen als bestimmende Größe zu betrachten. 

Diese Zahl sinkt auch in Deutschland kontinuierlich. Der Zeitpunkt wäre aber da, vom Panikmodus auf das allmähliche Auslaufen der Corona-Maßnahmenpolitik umzuschalten. Davon wollen die Regierungspolitiker in Bund und Ländern allerdings nichts wissen. Statt der Entspannung in den Krankenhäusern steht nun wieder der „Inzidenzwert“ im Mittelpunkt der Kommunikation, obwohl dieser durch die Ausweitung der Testtätigkeit und die fehlende Korrelation zu den tatsächlichen Erkrankungen fragwürdiger denn je ist.

Offenkundig fällt es der Exekutive schwer, sich vom Regieren im unerklärten Ausnahmezustand der Maßnahmenpolitik zu verabschieden. Die einseitige Festlegung auf das „Durchimpfen“ der Bevölkerung als einzigen Weg zum Beenden der „Pandemie“ ist zum Selbstzweck geworden. Die Logik bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie die ursprüngliche Begründung für Lockdowns und Corona-Maßnahmen, man müsse lediglich die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus, die „Infektionskurve“, abflachen, um eine sprunghafte Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden.

Dem irrealen Ziel, möglichst jede Infektion verhindern zu wollen, entspricht eine beunruhigend paternalistische Rhetorik, die dem Bürger jede Eigenverantwortung abspricht und ihn als unmündiges Erziehungsobjekt einer wissenden Obrigkeit behandelt. Die Frage Impfen oder nicht ist keine medizinische Frage mehr, sondern eine von Gehorsam und Wohlverhalten: Die Fügsamen sollen belohnt und die Widerspenstigen bestraft werden. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst verrät diese Denkweise, wenn er die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht als „Signal“ an die bereits Geimpften verstanden wissen will, daß die Bockigen jetzt auch einmal herangenommen werden sollen. 

Mit dieser Mentalität begibt sich Deutschland auf den abschüssigen Weg eines Zwangsregimes, das den Bürger zum Objekt umfassender staatlicher Bevormundung bis hinein in elementare Freiheitsrechte wie das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit machen will. In der Impfpflicht-Debatte geht es daher um weit mehr als um die Frage, welches der richtige Weg im Umgang mit einer gefährlichen Viruserkrankung sein soll. Es geht darum, ob bürgerliche Freiheit und Eigenverantwortung das bestimmende Element des gesellschaftlichen Zusammenlebens sein soll, oder ob von demokratischer Kontrolle zunehmend losgelöste Gremien und Entscheidungsträger die Kontrolle über immer größere Lebensbereiche erhalten sollen.

Zwei Jahre Corona-Politik haben die Gewichte in besorgniserregender Weise vom mündigen Staatsbürger zu obrigkeitsstaatlichem Denken und Kollektivismus hin verschoben. Die Impfpflicht-Debatte ist somit auch ein Prüfstein, ob die deutsche Demokratie stark genug ist, der Versuchung eines neuen Autoritarismus im Gewand der Fürsorglichkeit zu widerstehen.